Urlaubsbefehl

Urlaubsbefehl

Die meisten Proraer Bausoldaten waren im Süden der DDR zuhause. Viele, so wie ich, stammten aus kleinen, teilweise abgelegenen Dörfern im Erzgebirge. Eine Fahrt von Prora ins Erzgebirge oder zurück, war deshalb eine halbe Weltreise. Das wusste man bei der Armee und nutzte es voll aus. Die zustehenden Urlaubstage wurden so geschickt verteilt, dass man möglichst viel Zeit auf der Schiene verbringen sollte. Ein Urlaubswochenende sah meistens so aus, dass man Freitag am späten Nachmittag heraus gelassen wurde. Am Dienstagmorgen um 6.00 Uhr musste man aber schon wieder zurück in der Kaserne sein. (teilweise auch Donnerstag bis Montag) Wünsche wurden nur selten berücksichtigt.

Sobald man die begehrte Urlaubskarte in der Hand hielt, begann der eigentliche Stress. Schnell musste man zum Bahnhof laufen, um den ersten Zug zu bekommen. Dann stand einem eine lange und anstrengende Nacht bevor. In den völlig überfüllten Nachtzügen, in denen fast ausschließlich Soldaten fuhren, ging es Richtung Heimat. Je nach dem wo man wohnte, musste oft umgestiegen werden. Wenn nun durch die häufigen Verspätungen einer der Anschlusszüge verpasst wurde, dann verlängerte sich die Reise manchmal um weitere kostbare Stunden. Die Fahrt in so einem überfüllten Militärzug war alles andere als angenehm. Oft fand man keinen freien Sitzplatz mehr und musste dann stundenlang stehen oder in einer Ecke hocken. Für einen Nichtraucher wie mich war auch der üble Gestank eine Qual. Auch in den Nichtraucherabteilen wurde oft ungeniert geraucht. Bei den häufig angetrunkenen Soldaten trauten sich selbst die Schaffner nur selten, etwas dagegen zu unternehmen oder sie kamen in den überfüllen Zügen einfach nicht durch. Ich erlebte es auch, dass sich ein Betrunkener übergab. Der Geruch des Erbrochenen vermischte sich nun mit dem Rauch. Ein Weglaufen war nicht möglich, da selbst die Durchgänge in dem Zug hoffnungslos überfüllt waren. Durch den Geruch übergaben sich nun auch noch 2 weitere Soldaten. Es war einfach schrecklich. Außerdem begab man sich auch nicht gerade ausgeruht auf eine solche Fahrt. Oft lagen anstrengende Arbeitswochen hinter uns, in denen man morgens 4.00 Uhr aufstehen musste. Entsprechend müde und schlapp war man schon zu Beginn der Reise.
Wenn man dann am anderen Tag endlich zu Hause ankam, hatte man nur noch einen Wunsch. Schlafen, schlafen, schlafen … Damit war dann auch schon der erste Urlaubstag weg, ohne dass man irgendetwas davon gehabt hätte. Am Sonntagmorgen hatte man dann schon wieder das beängstigende Gefühl in der Magengegend. Denn am Nachmittag ging es ja wieder zurück nach Prora, natürlich wieder in den überfüllten Nachtzügen. Nur dass man sich nach der Ankunft in Prora nicht ausruhen konnte, sondern meistens sofort wieder auf die Baustelle musste. Oder die Vorgesetzten ließen uns in der Kaserne „rundlaufen“, wenn man zufällig im Freizyklus war.

Diese schrecklichen Abläufe wiederholten sich durchschnittlich alle 4 bis 5 Wochen, wenn man nicht gerade mit einer Urlaubssperre bestraft wurde. Da die meisten Bausoldaten erst mit 26 Jahren zur Armee einberufen wurden, hatten viele von ihnen bereits eine Familie gegründet. Zu Hause warteten dann sehnsüchtig die Frau auf ihren Mann und die Kinder auf ihren Papa. Eine Urlaubssperre war deshalb eine der schlimmsten Strafen für sie. Und die Vorgesetzten nutzen das schamlos aus. Oft hörte man deshalb die Frage: „Genosse Bausoldat, sie möchten wohl eine Urlaubssperre?“ Nach einer solchen Frage „funktionierten“ die meisten Bausoldaten dann wieder, denn einen Urlaub wollte man auf keinen Fall aufs Spiel setzen.

Bei mir war das alles ein wenig anders. Ich war vor meiner Armeezeit noch ledig und auch wegen meiner Arbeit schon von zu Hause ausgezogen. Ein typischer Junggeselle also. Natürlich fuhr auch ich gerne in den Urlaub zu meinen Eltern oder zu Freunden. Aber es war nicht so, wie bei den Familienvätern. Oft taten sie mir so leid, wenn sie Angst um ihren Urlaub hatten oder gar mit einer Urlaubssperre bestraft wurden.
Für mich persönlich sah das alles deutlich entspannter aus. Und das ließ ich die Vorgesetzten auch wissen. Bei einer der üblichen Drohungen rutschte mir zuweilen auch mal die Antwort über die Lippen: „Das ist mir egal.“

Im letzten Drittel meiner Bausoldatenzeit hatte ich diese üblen Nachtfahrten in den Urlaub so satt, dass ich einen Plan schmiedete. Ich nahm mir vor, bei den letzten Kurzurlauben jeweils eine Urlaubssperre zu provozieren. Die gestrichenen Urlaubstage musste man mir ja dann doch irgendwann geben. Und so dachte ich mir, dass ich diese Tage dann zusammenhängend kurz vor der Entlassung ganz gut gebrauchen könnte. Es gab ja vor der Entlassung dann auch wieder vieles zu organisieren, für das Leben danach.

Laut meiner Notizen, war es Donnerstag, der 20. November 1986. Man durchlebte den üblichen Stress vor der Urlaubsfahrt. Es wurde alles sauber gemacht, bebügelt und geputzt, damit die Offiziere ja keinen Grund für eine Urlaubssperre finden sollten. Ich hingegen durchlebte in diesen Minuten einen ganz anderen Stress. Ich war unsicher und hatte auch etwas Angst davor, wie wohl die Offiziere auf meine geplante Provokation reagieren würden. Meine Schuhe hatte ich absichtlich schmutzig gemacht. Auf die Bügelfalte meiner Armeehose hatte ich mich vorher längere Zeit quer draufgesetzt, so dass sie praktisch nicht mehr sichtbar war.
Dann der Urlaubsappell. Wie erwartet blieb der Zugführer völlig entsetzt vor mir stehen. Alles was er mir zu sagen hatte war: „Genosse Bausoldat, Schuhe putzen, Hose bügeln, wegtreten“. Bis dahin lief alles nach Plan. Anstatt nun in die typische Hektik zu verfallen, ging ich gemächlich im mein Zimmer, zog mich aus und legte mich aufs Bett. Da ich müde war, schlief ich ein. Geweckt wurde ich dann einige Zeit später durch das Aufschlagen der Tür. Im Zimmer stand nun der Zugführer und fragte mich, ob ich nicht in den Urlaub fahren wollte. Darauf gab ich ihm nun eine ganz ehrliche Antwort. Ich sagte ihm, dass ich keine Lust mehr hätte, diesen Stress zu durchleben und dass zu Hause sowieso niemand auf mich warten würde. Und dann übertrieb ich: „Wir haben es ja so gut hier. Eine so wunderschöne Aussicht auf die Ostsee. Für einen solchen Aufenthalt geben andere Leute viel Geld aus. Ich möchte meine Kurzurlaube zukünftig in Prora verleben.“ Das machte den Unterleutnant sprachlos. Er stand mir noch einen Moment gegenüber und verschwand dann wortlos. Vermutlich um sich nun mit dem Kompaniechef abzustimmen. Einige Minuten später tauchte er wieder auf.
Er gab mir nun den kurzen Befehl: „Schuhe putzen“ Ich begann in aller Ruhe meine Schuhe zu putzen. Da ich mir viel Zeit dafür nahm, wurde der Zugführer ungeduldig. Obwohl die Schuhe noch nicht einmal eingecremt waren, sagte er: „Das reicht jetzt!“ Und ich sollte mich anziehen. Dass die Hose immer noch ungebügelt war, interessierte ihn nicht mehr. Er wollte mich einfach nur los sein. Wortlos überreichte er mir dann die Urlaubskarte. Diese legte ich allerdings in meinen Spind in das Schließfach. Daraufhin sagte er die Worte, die wohl andere Bausoldaten nie zu hören bekamen: „Genosse Bausoldat, ich befehle ihnen jetzt in den Urlaub zu fahren.“ Mit dem Kopf machte er noch eine Bewegung, die mir signalisierte, dass ich jetzt verschwinden
sollte. Ich ging also zum Bahnhof, doch die Züge waren längst unterwegs. Jetzt noch mit dem nächsten Zug loszufahren, wäre Unsinn gewesen. Stundenlanges Herumstehen auf irgendwelchen Bahnhöfen bei dem kalten Herbstwetter, das wollte ich mir nicht antun.
Deshalb ging ich wieder zurück zur Kaserne. Die Soldaten, die am Tor Wache hielten, waren natürlich verwundert, dass ich schon wieder zurückkam. Ich wurde gefragt, wo ich die „Bulle“ versteckt hätte. Sie vermuteten scheinbar, dass ich nur mal zum Einkaufen draußen war und nun Schnaps in die Kaserne schmuckeln wollte. Ich wurde deshalb ausgiebig durchsucht. Sogar die Hosenbeine haben sie mir abgetastet und besonders fest fassten sie im Genitalbereich zu, wobei sie sich lustig über mich machten. Etwas ratlos ließen sie mich dann doch laufen. Unbemerkt von den Vorgesetzten ging ich in mein Zimmer. Nun hatte ich also meinen Urlaub in Prora. Alle anderen Zimmerkollegen waren weg. Eine unglaubliche Ruhe war das in dem Zimmer. Und ich gab mir viel Mühe, das positiv zu sehen. Da ich aber immer noch im Besitz der Urlaubskarte war, ging der Plan leider nicht auf, die Tage für einen längeren Urlaub zu sparen.

Den Urlaub in Prora versuchte ich mir dann so angenehm wie möglich zu machen. Endlich konnte ich einmal richtig ausschlafen. Beim Gang zur Toilette begegnete ich zufällig einem anderen Vorgesetzten. Der beachtete mich aber nicht weiter. Außer einigen anderen Bausoldaten ließ sich an dem ganzen Wochenende kein Vorgesetzter mehr in meinem Zimmer blicken. Haben sie mich vielleicht sogar absichtlich ignoriert, weil sie mit dieser Situation nicht umgehen konnten? Hatten sie vielleicht Angst vor Nachahmung?

Es war also doch ein kleiner Sieg für mich, auch wenn ich nicht alles erreicht hatte.
Von da an hatte ich aber in Bezug auf Urlaub Narrenfreiheit. Man übersah nun bei mir großzügig Dinge, die für andere sicher Konsequenzen gehabt hätten. Ich ließ mir z.B. trotz mehrfacher Ermahnungen die Haare relativ lang wachsen. Beim nächsten Kurzurlaub, den ich dann doch wieder in Anspruch nahm, war der Spieß sichtlich erleichtert, als ich ging. Fast freundlich rief er mir auf der Treppe hinterher, dass ich doch gleich mal mit zum Friseur gehen sollte. Nach einer so netten Erinnerung tat ich ihm dann sogar den Gefallen.

Tobias Bemmann (Bausoldat von November 1985 - April 1987)

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