SPATEN

Mathias Tietke (ehemaliger Bausoldat) (E-Mailadresse Nr. 28)

SPATEN

Neun Monate liegen hinter uns, neun Monate stehen uns noch bevor. Wir sind Arbeitssklaven für den Zeitraum von zwei Schwangerschaften. Zwei mal neun Monate unter dem Kommando latent sadistischer Säcke. Draußen werden wir von wildfremden Menschen geduzt und zum gemeinsamen Biertrinken gedrängt, hier drinnen werden wir von Uniformträgern gesiezt, aber angeschrien und herum kommandiert. Untereinander sprechen wir uns mit >Jungs< und albernen Spitznamen an, als wären wir Psychiatriepatienten. Für die politische Führung sind wir dies sicher auch: paranoide Verweigerer, kopfkranke Weichlinge, politisch Verblendete. Aber wir revanchieren uns. Die uns vorgesetzten Offiziere sind für uns nichts anderes als >Säcke<: Christel, der Kompanie-Sack, der Politsack Lenz und Oberst Speck, der vollschlanke Sack der Säcke. Zwischen ihnen und uns bewegen sich die Uffze, berechenbare Lakaien mit einem gewissen zwischenmenschlichen Potential, in deren Gegenwart gern gefragt wird, wie ein Schwein macht, das gegen eine Wand läuft. Uffz!

Unsere Sprache hat sich weitgehend dem Milieu und der uniformierten Umgebung angepasst. Anfangs wehrten wir uns noch gegen den Soldatenslang und rebellierten mehrere Wochen gegen bestimmte Worte und Begriffe. Vergebens. Wir waren und sind Verweigerer, aber unser Umgangston, unsere Wortwahl ist angepasst. Reden in Kürzeln. Es ist eine effektive Initialsprache, die aus Menschen zu bewegende Subjekte macht: Nummer Sieben: UvD. BS Wichtig zum KC.

>You ´re in the army now, ohoho, in the army...now...<
Der Glatte auf der Ladefläche des W50. Zusammen mit anderen Säcken der unteren Ränge. Unterwegs zum Ausgang, Saufgang, Sackgang.
> You ´re in the army - NOW!<
Der Glatte grinst und beweist mit seinem Gesinge einmal mehr, dass ein Arschloch ein Arschloch bleibt und eine Armee eine Armee.
Der Hit aus dem >Feindesland< kommt immer dann von den Lippen der Vorgesetzten, wenn sie ihre >gute< Laune zeigen wollen. Aber die hält nie lange vor. Der Haß ist auf beiden Seiten, Haß gehört zum Alltag. Selbst für die Frommsten ist er selbstverständlich inzwischen.
„Onanie A-dung!”
„Rie-cht oich!”
„Au-en inks! Zur Meldung deee Au-en ächz!”
„Nasse Aumann - Melde: Onanie annegräten.”
„Asse ührn!”
„Au-en rade-aus!”
„Onanie rrürrt oich!”
„Oh - ÄhNossen Au-obladen...”
„Volljendes liecht an!”

Vorbei die Zeiten, in denen irgendwer auf die Ansage >Folgendes liegt an< des Feldwebels mit >Mein Schwanz liegt an< reagierte oder auf >Genosse Bausoldat< mit >Jeder G´nosse g´hört erschosse.< Die Hörner der Übermütigen sind abgestoßen, die Provokateure mit dem einfachen Gemüt müde von Ausgangs- und Urlaubssperren oder dem Absitzen der Zeit in der Arrestzelle. Die Provokationen und Widerstände haben jetzt mehr Format und sind zugleich wirkungsvoller, was entweder schärfere Bestrafung oder aber Straffreiheit zur Folge hat.

„So, Genossen Bausoldaten!” Der Auftakt vom KC zum Abendapell ewig gleich. Doch die weiteren Ansagen dann mit einer zu erwartenden Abweichung. Eine scharfe Warnung vor jeglichem Übertreten der vorgegebenen Spielregeln. Gretel, wie der Leutnant wegen seiner femininen Gesichtszüge von allen in der Kompanie genannt wird, unser Kompaniegretel hat also mitbekommen, dass zum Abschluss dieses Bergfesttages, dem Gedenktag der Halbzeit, einiges an halb legalen und gänzlich illegalen Aktivitäten geplant ist. An sich bemerkenswert, denn sonst bekommt Gretel von dem, was hier läuft, nicht allzu viel mit. Jemand muss ihm etwas gesteckt haben. „Kompa-nie: Weg-treten!”

Der Tag des Bergfestes trotz obligatorischem Feiern zwiespältig. Die Hälfte geschafft, die Hälfte  steht noch bevor. Ob man sich nun über die Dornen des Rosenstrauchs ärgert oder über die Rosen des Dornenstrauch freut, liegt  ganz an der geistigen Verfassung und den äußeren Umständen, den kleinen und großen Katastrophen zu Hause, den Perspektiven nach Ablauf dieser Zeit im Quasi-Straflager.
Für mich ist dies ein besonderer Tag.  Der Beginn von Aufzeichnungen. Jeder Tag soll nun zugleich  ein Tag des Rückblicks werden. Ob es sich konsequent umsetzten lässt, wird sich bald zeigen. Auf jeden Fall ist es den Versuch wert. Durch die Mithilfe von jenen, die für die Militärversorgungsbaracke eingeteilt sind und die ich für zuverlässig halte, könnte es gelingen. Vielleicht reißt es uns aus dem Loch der Lethargie; vielleicht animiert es Alex zum Reden und stabilisiert ihn. Der Bescheid, dass er trotz zweifachem Suizidversuch die volle Distanz dienen muss, liegt erst ein paar Tage zurück.
Sollten die Aufzeichnungen einem Uffz. oder einem Sack in die Hände gelangen, wäre dies fatal. Mit Sicherheit würde es die Gegenseite provozieren und die Schikanen ausweiten. Wobei sie die wesentlichen Fakten und Meinungen ja bereits aus unseren Briefen kennen, die immer wieder verdächtige Öffnungen an den Seiten haben. Die Briefe, die vor neun Monate hier angekommen sind, werde ich noch einmal lesen müssen. Und dies Woche für Woche, neun Monate lang.

„Ona-nie - Ach-tunck...!”
„Wech-tre-ten!”
„Auch Sie, Bausoldat Richter!”

Es muss sein. Wenn diese vergeudete Zeit, diese zwanghaften Umstände außer Frust irgend etwas bringen sollen, dann dadurch, dass ich einen Teil meiner Eindrücke festhalte und Vergangenes erinnere. Eine Portion täglicher Spontan-Therapie gegen Entmündigung. Eine Alternative zur Augen-zu-und-durch-Mentalität. Eine Schreibbewegung von der Gegenwart in die Zukunft. Und eine zweite Bewegung von der Vergangenheit in Richtung Gegenwart, Vergangenheit auf konstant gleichbleibender Distanz. Auch die jeweilige Erinnerung des Vergangenen ist Teil der Gegenwart. Ein zweifacher Konservierungsvorgang sozusagen. Säcke und Minenfutter im Glas. Willkommen im Club, willkommen im KdF-Areal, willkommen bei den resistenten Baueinheiten der Nationalen Volksarmee.

Festnahme
Was nahezu alle durch den Tag der Halbzeit ausgelösten Erinnerungen überlagert, ist der Zwischenfall, der gerade eine Woche zurück liegt. Eine Situation, für die der viel strapazierte Begriff >kafkaesk< vollends zutrifft. Kafkaesk ist einfach der perfekte Ausdruck für jene Erfahrung, die in ihrem Ablauf so grotesk und zugleich bedrückend gefährlich war, obgleich ich am liebsten laut gelacht hätte über diese in ihrer Absicht durchsichtige Aktion durchgeknallter Wachposten. Punkte sammeln bei Vorgesetzten und Extra-Urlaub rausschinden. Von der geforderten schriftlichen Stellungnahme hatte ich mir mit blauem Durchschlagpapier eine Durchschrift gesichert, für alle Fälle.

Stellungnahme vom 27-07-1986

Heute Nachmittag 15.50 Uhr MEZ verließ ich den Kasernenbereich der vierten BS-Kompanie und begab mich zur Außenanlage hinter der Turnhalle. Ich tat dies ob des sonnigen Wetters und verfasste dort auf dem Rasen sitzend einen Brief.
Punkt 17 Uhr, als ich gerade dabei war meine Sachen zusammenzupacken, lief hinter dem etwa vier Meter entfernten Maschenzaun ein Gefreiter vorbei. Er sagte, ich sollte mich weiter oben hinlegen, worauf ich antwortete, daß ich gerade gehen will.
Nach ein paar Schritten kehrte er zurück und sagte: „Zieh lieber die Schuhe an.”, was ich aber ohnehin gerade tat. Dann rief er: „Sie sind verhaftet!”
Er forderte mich auf, dicht am Zaun entlang zu laufen, was ich tat. Dann sagte er: „Ach so. Im Falle, daß Sie die Flucht ergreifen, mach´ ich von der Waffe Gebrauch.” Dazu hob er das Gewehr und hantierte daran.
Am Ende des Zauns riß ein zweiter Posten ein Stück des Maschendrahtes auseinander und zwang mich, dort hindurch zu steigen. Der erste Posten führte mich anschließend zur Turnhalle, wo er des weiteren drei Unteroffiziere festnahm. Mit dem Gesicht zur Sturmbahn standen wir dann zu viert ein halbe Stunde auf dem Exerzierplatz. Anschließend wurden wir zum OvD geführt, der die  Daten notierte und mich aufforderte, mich im Stab zu melden, des weiteren den UvD  zu informieren sowie den Kompaniechef in Kenntnis zu setzen.
...Bausoldat RICHTER...


Der Abend des Bergfestes, ein Abend der Zahlen: Zweihundertviersiebzig Tage bewältigt, zweihundertvierundsiebzig Tage noch runterzureißen, einhundertvierundsiebzig Tage bis zum Hunderter-Countdown. Der Passgänger meinte zu Alex: „Die paar Tage schaffen wir auch noch. Danach können sie uns kreuzweise.”. Seidel sagte: „Läuft mir nächstes Jahr um diese Zeit eine von den Sackfotzen über den Weg, gibt's auf die Fresse.”

Seit einer halben Stunde beobachte ich das Gewitter, sehe auf die Ostsee. Die Wolkenfront stand erst über Lietzow, dann bei Saßnitz, schließlich direkt in der Bucht. Phantastisch. Häufig
Doppel-Blitze und über Saßnitz waren es fast nur rötliche Entladungen. Durch die Entfernung und die unglaublich gute Sicht erinnert es an Theaterinszenierungen. Aber weshalb erinnert mich ein Naturereignis an etwas Künstliches und nicht umgedreht? Offenbar bin ich mit dem Künstlichen, dem Nachempfundenen besser vertraut als mit dem Original, der puren Natur. Aber ich bin auch ein Stadtmensch, umgeben von Technik und Künstlichkeit. Natur und Natürlichkeit ist die Ausnahme, so wie diese gräßliche Uniform. Natur ist für mich daheim, als Zivilist, am ehesten noch auf einem Friedhof zu haben.
Bei Gelegenheit sollte ich mal nachsehen, wie Caspar David Friedrich die Naturgewalten vor der Stubnitz gestaltet hat. >Mal nachsehen< ist gut: Unter den Bedingungen der Quasi-Gefangenschaft wird jedes läppische Vorhaben zu einer Mission. Immerhin eine Motivation für den nächsten Ausgang.
Auf dem Flur rollen Flaschen und Stahlkugeln. Das Fest beginnt.
 

zurueck49

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