Johannes Scheel

Johannes Scheel - ehemaliger Bausoldat (E-Mailadresse Nr. 254)

18 Monate bei der Asche

Da liegt er vor mir, der Stapel Briefe, die ich meiner Frau und meinen Kindern in 18 Monaten schrieb. Erst lese ich hier und da ein wenig quer, dann fange ich am Anfang an. Es sind 223 Briefe. Ich komme nicht weit, aber mit jedem Satz kommen die Erinnerungen an verschüttete Details einer Zeit, die eine ganze Generation junger Christen in der DDR geprägt hat.

Einberufung
Es war ein trüber kalter Tag Anfang  Mai 1983, leichter Sprühregen. Als ich den Zug in Aue bestieg, waren meine Gefühle zerrissen: Wut, Trauer, gespannte Erwartung auf die bevorstehenden Wochen und Monate. Man hatte schon vieles Gehört, außerdem besuchten uns oft die Bausoldaten der benachbarten Kaserne in der Gemeinde und auch zu Hause.
Marion, meine Frau,  hatte es nicht geschafft mit zum Bahnhof zu gehen, sie winkte vom Fenster unseres Gemeindehauses in Aue. Christian war knapp zwei Jahre alt, Matthias keine neun Monate. In den vergangen Monaten hatten wir das Gebäude saniert, die letzten Malerarbeiten im Gemeindesaal waren noch im Gange. Marion würde die Zeit allein mit den zwei Kindern in dem großen Haus mit schlechter Wärmedämmung und alten Öfen zubringen. Gut, dass wir noch nicht wussten, was das im Einzelnen bedeutete.
Die Einberufung war wie erwartet im Jahr meines vollendeten 26. Lebensjahres erfolgt.  Sozusagen kurz vor Toresschluss. Das war Prinzip. Wenn schon jemand wagte, das Verfassungsmäßig garantierte Recht auf Waffenlosen Dienst in Anspruch zu nehmen, sollte es für ihn auch möglichst schmerzhaft werden. Also, wenn anzunehmen war, das der junge Mann Familie hatte und es ihm, wie denen, die er zurückließ möglichst schwer fiel. Schließlich hätte man es auch leichter haben können und gleich nach der Berufsausbildung zur normalen Truppe gehen oder noch vor dem Studium am besten für drei Jahre Unteroffizierslaufbahn, dann war der Studienplatz sicher. Systemkritische Elemente wie wir sollten gezeigt bekommen, wer sie im Sozialismus waren. Es sollte weh tun, und das tat es, denn zum Prinzip der späten Einberufung kam das Prinzip, möglichst weit weg vom eigenen Wohnort zu kommen. Jeder fürchtete, dass es ihn vielleicht nach Prora auf der Insel Rügen verschagen würde, wo viele Bausoldaten einen militärischen Hafen bauten. Dann blieb von einem Kurzurlaub, alle drei bis fünf Wochen nicht viel übrig.

Brüder
In Chemnitz stand ein junger Mann auf dem Bahnsteig, den ich meinte zu kennen. Aber die kurzgeschnittenen Haare hatten jeden entstellt, und wer sich wagte unfrisiert anzukommen, wurde nach Armeeart geschoren. Es war tatsächlich ein Studien- und Predigerkollege. Wie gut, wir waren schon zu zweit und hatten das gleiche Ziel: Ortrand, nördlich von Dresden. LKWs brachten uns zu einer kleinen Kaserne abseits im Kiefernwald. Der Ton war sofort beim Aussteigen aus dem Zug ruppig, militärisch. Sowas kannte ich nur aus Filmen. Schlagbaum, Stacheldraht,
Posten, eine Reihe zweistöckiger Plattenbauten. Betonstraße - der Ort unserer Grundausbildung. Wir waren .... Bausoldaten. Schnell hatten wir fünf Adventisten uns gefunden und beschlossen, für den freien Sabbat zu kämpfen. Wir baten um ein Gespräch mit dem Hauptmann. Der gab uns gute Worte aber so etwas gäbe es in der Grundausbildung überhaupt nicht. Wenn wir dann in unseren Dienstorten wären, sähe das ganz anders aus, aber hier müssten wir schon mal einen Kompromiss eingehen. Wir wussten aber, dass man sich auf diesen Kompromiss immer berufen würde um uns keinen einzigen Sabbat frei zu geben, also beriefen wir uns auf unser verfassungsmäßiges Recht freier Religionsausübung und kündigten ihm an, dass wir am Samstag früh den Befehl zum Ausrücken an die Arbeit verweigern würden.
Er drohte noch mit Bau und allem Möglichen, aber wir waren noch nicht vereidigt und eine angekündigte Befehlsverweigerung könnte nicht militärrechtlich geahndet werden. Er hätte sich eine Menge Ärger eingehandelt, oder das Gesicht verloren, so bekamen wir am Sabbat Morgen dienstfrei. Wir feierten gemeinsam einen Dankgottesdienst und tankten Zuversicht. Der Ersatzdienst am Sonntag fiel aufgrund von Lustlosigkeit der Unteroffiziere mild aus.

Sport, Singen und Beten
Die Grundausbildung war hart, nicht jeder war mit 26 noch körperlich fit, manchen mussten wir halb bewusstlos über die 6000 m Hindernisstrecke mit Gasmaskeneinsatz schleifen. Die Panzerkettenglieder, mit denen wir jeden Morgen unsere „Gymnastik“ machten, konnten verflixt schwer werden. Aber ich nahm die Ausbildung von der sportlichen Seite als willkommenes Trainingsprogramm, zu dem ich im Predigerdienst leider viel zu selten kam.
An einem der ersten Tage begannen plötzlich einige vor dem Essen ein Tischlied zu singen. Über den Tag schwoll das zu einem kräftigen Gesang vor dem Essen. Das Donnerwetter ließ nicht lange auf sich warten. Uns wurde befohlen: „gefälligst diese religiöse Propaganda zu
unterlassen“. Auf unserem Zimmer lasen einige morgens die Herrnhuter Losungen oder hatten eine Bibel in Reichweite. So schlug ich vor, den Tag gemeinsam mit der Losung und einem Gebet zu beginnen und auch gemeinsam zu beschließen. Der Vorschlag wurde begeistert angenommen, obwohl nicht alle praktizierende Christen waren.

Die Spannung und die Spekulationen, wo wir denn nach der Grundausbildung hin versetzt würden nahm von Tag zu Tag zu und war bis zum letzten Tag der drei Wochen strenges Geheimnis. Sowieso war hier alles geheim und außer dem Wetter durfte man eigentlich nicht viel schreiben. Tagebuch war ebenfalls bei Strafe verboten zu führen. Man erzählte genügend Geschichten von Leuten, die aufgrund von Briefinhalten in den Bau oder gar ins Militärgefängnis nach Bautzen gewandert waren.
Das ein Briefgeheimnis bei der Armee nicht galt war selbstverständlich und machte uns
vorsichtig. Also schrieb ich die delikaten Details in griechischer Umschrift. So leicht sollten‘s die Schnüffler nicht haben, wenn wie schon die Nase in unsere Briefe steckten. Wozu ein   gemeinsamer Griechischunterricht in Friedensau doch alles gut sein kann hatten wir damals nicht geahnt.
Uns mutete die Geheimniskrämerei ziemlich lächerlich an, aber die Unterweisung über das Verhalten des Soldaten der Volksarmee als Geheimnisträgers gegenüber dem Klassenfeind war ein Höhepunkt der Grundausbildung und bewirkte bei uns ein Gemisch aus Belustigung und Einschüchterung. Es war uns klar, dass es hier nichts zu verraten gab, aber mit diesen Gesetzen konnte man jedem einen Strick drehen. So wurden wir bei Strafandrohung verpflichtet, kein Westradio oder Fernsehen zu sehen, auch nicht im Urlaub, keinerlei Kontakte zu Personen aus Westdeutschland oder dem westlichen Ausland zu haben, sollte so etwas versehentlich geschehen, etwa im Zug oder zu Hause, hätten wir sofort Meldung zu machen und schriftliche Stellungnahmen anzufertigen.

Bausoldaten und „E-Bewegung“
Nach zehn Tagen Grundausbildung wurden wir auf unsere Dienstorte verteilt. Wir waren sehr froh und dankbar, dass unsere Zimmerbesatzung zusammenblieb. Zu zehnt wurden wir zu einem Funk- Bataillon der Luftwaffe nahe Buckow, östlich von Berlin, versetzt. Was würde uns dort begegnen? Wie würde es mir nun als einzigem Adventisten ergehen?

Nach einer anstrengenden LKW-Fahrt kamen wir am Nachmittag des 13. Mai in Waldsieversdorf an. Wir wurden von einem Unterleutnant in Empfang genommen und von einigen Bausoldaten vor einer Baracke begrüßt. Dann luden uns die 11 Bausoldaten, die schon im dritten Diensthalbjahr waren in den Aufenthaltsraum. Dort stand eine große Tafel mit weißen Tischtüchern und Kerzen, Torten, Kuchen, Kaffee. Einer hielt eine kleine Begrüßungsansprache, alle stellten sich vor. Alle waren so herzlich, dass uns Zentnerlasten von der Seele fielen. Uns standen die Tränen in den Augen.
Als ich sagte, dass ich Adventist sei, war alles klar. Gerade war ein Adventist entlassen worden, den ich gut kannte und der sich den Sabbat freigekämpft hatte. Gott hatte also längst die Wege geebnet. Auf einer Karte vom 13. Mai 83 an meine Frau steht u.a.: „Wir sind alle sprachlos über die Führungen Gottes, und wie er zu seinen Kindern steht...“
Wir hatten gehört und erfuhren es in Zukunft noch oft, wie die Neuen, die so genannten „glatten“ (ohne Streifen auf den Schulterklappen), normalerweise empfangen wurden. Mit Eimern und Schrubbern, mit den demütigendsten Aufträgen und abartigsten Schikanen. Sich wehren, verweigern oder beschweren war zwecklos, das machte alles nur schlimmer. Klappe halten und durch, wenn sie Flur, Zimmer und Klo das dritte mal mit der Handbürste reinigen mussten nachdem ganze Waschmittelpakete gleichmäßig verstreut worden waren, wenn sie die Schuhe der Altgedienten putzen und die Betten machen mussten, wenn sie zusehen mussten, wie sich die EKs  in ihren privaten Paketen als erstes bedienten. Es gab immer noch fiesere Spielchen in der rauen Männerwelt. Abwarten, im zweiten Halbjahr wurde es schon besser, da konnte man sich an den Neuen revanchieren und im dritten machte man keinen Finger mehr krumm. Die Sogenannte E-Bewegung (EK = Entlassungskandidaten) wurde offiziell geleugnet. Wer sich über Schikanen oder Barras-Methoden beschwerte, war selbst der Dumme. So etwas gibt‘s bei uns nicht, das ist Verleumdung! Ein Soldat ging 10 Tage in den Arrest für einen Brief an seine Freundin, in dem er seine Behandlung beklagte. Inoffiziell war die E-Bewegung jedoch ein willkommenes Mittel nach dem alten Prinzip: teile und herrsche. Solange die Soldaten sich untereinander bekriegten hatte man leichtes Spiel.
So leicht hatte man es mit uns Bausoldaten nicht. Trotz vieler Versuche, Misstrauen und Spaltung zu säen, stand ihnen  immer ein geschlossener Block von 25 Bausoldaten gegenüber. Ungerechtigkeiten bei der Urlaubsverteilung beugten wir vor indem wir selbst auf Urlaube verzichteten, wenn andere benachteiligt wurden. Im allgemeinen hatten sie begriffen, dass alles am einfachsten lief, wenn wir selbst Urlaub und Ausgang verteilten, und der Hauptmann nur noch die Scheine unterschrieb.
Was für ein hohes ethisches Kapital wir übernommen hatten, begriffen wir erst nach und nach, auch nachdem unsere Vorgänger entlassen waren. Neue Vorgesetzte versuchten immer wieder einmal neue Sitten einzuführen. Aber ein wertvoller Schatz von Fairness und Umgangsform wurde von einer Generation an die nächste weitergegeben. Ansätze von EK-Wortschatz, der sich im Armeejargon leicht einschleicht, wurden strikt unterbunden. Unterschiede zwischen den Diensthalbjahren wurden nicht geduldet. Der „Altgediente“ machte noch genauso die Latrine sauber wie der Neue. Das war bei uns Bausoldaten im Unterschied zur vierhundert Mann Starken Kompanie Ehrensache. Unterdrückungsmechanismen wurden auch verbal nicht geduldet. Das rang den Vorgesetzten nicht wenig Respekt ab.

Urlaub
In vielen Dingen zeigte sich, dass es auch ein Vorteil war, nicht mehr 18, sondern 26 zu sein. Wir hatten doch etwas mehr Lebenserfahrung als einer der frisch von der Offizierschule kam, ließen uns nicht so schnell von einem kaum 20 jährigen Unteroffizier einschüchtern und nahmen auch die Drohungen eines Offiziers gelassen. Natürlich hatten sie einen schmerzhaften Hebel, den Urlaub. Ihn wegen einer Blödsinnigkeit gesperrt zu bekommen war nicht nur ärgerlich, es war eine empfindliche Strafe, für Männer, die sich nach ihren Frauen sehnten, ebenso aber für die Frauen und die Kinder, die ihren Mann und Vater manchmal statt nach drei oder vier erst nach sechs oder sieben Wochen  wiedersahen.
Ein normaler Kurzurlaub, der einem in der Regel alle drei bis fünf Wochen zustand begann Samstag nach dem Dienst, also irgendwann am zeitigen Nachmittag, wenn man Glück hatte und keine Beanstandungen an der Ausgangsuniform und am Haarschnitt oder irgendwas anderes dazwischen kam. Wenn alles klappte mit den S-Bahn-Anschlüssen und Verbindungen, konnte ich gegen Mitternacht in Aue sein. Da ich Montag 7 Uhr wieder zum Dienst antreten musste, bedeutete das, Sonntag gegen 22.30 Uhr aufzubrechen um den Nachtzug nicht zu verpassen. Glücklicherweise bin ich mit einem ruhigen Gemüt gesegnet und konnte die verbleibende Zeit mit Kindern und Frau bis zur letzten Minute genießen. Andere waren schon am Sonntagmorgen zu nichts mehr zu gebrauchen und in Gedanken noch nicht angekommen und schon wieder unterwegs. Eigentlich war das ganze eine Form seelischer Grausamkeit.

Die Sinnfrage
Was hatte das ganze für einen Sinn? In einem der ersten Briefe aus Waldsieversdorf schrieb ich: „Man staunt nur so über den Arbeits- und Planungsstil bei der NVA. Hier zählt nicht, wer was kann oder weiß, sondern wer paar Sterne mehr hat oder Vorgesetzter ist. Und da ja keinen etwas angeht, was mit den Arbeitskräften angestellt wird und was effektiv rauskommt, hört man haarsträubende Sachen von sinnigen Aktionen. Ansonsten ist auch nichts da, was man braucht (sozialistische Materialwirtschaft) vor allem keiner, der sich um was kümmert. Man merkt vom ersten Tag an, daß jeder (der Vorgesetzten) nur das allernötigste machen möchte. Wir werden uns dran gewöhnen müssen.“
Dennoch gab es in den nächsten anderthalb Jahren noch genügend Gelegenheiten sich über die Sinnlosigkeit der Einrichtung NVA und ihrer Aktionen zu ärgern und insgesamt musste man aufpassen, dass die eigene Arbeitsmoral nicht auf der Strecke blieb.
Wir hatten sehr schnell begriffen, welche eigentliche Aufgabe die „Volksarmee“ in der DDR hatte. Es war ein wichtiges Instrument der Einschüchterung. Jedem wurde klar gemacht, dass er ein entbehrliches Teilchen in der Masse, sozusagen Kanonenfutter war. „Sie haben hier nicht zu denken, sondern zu machen, was man ihnen sagt!“ Vielleicht ohne es zu wollen zeigte das System an dieser Stelle sein wahres Gesicht und sein wirkliches Menschenbild. Wer vielleicht noch irgendwo in seinem Hinterkopf den Gedanken an die edlen Ziele des Sozialismus und der DDR geglaubt hatte, hier wurde er endgültig eines schlechteren belehrt:  „Sie sind doch nur ein Furunkel am Arsch des Sozialismus!“ Sage ein Vorgesetzter einem Bausoldaten, der irgend etwas wollte. Derselbe hatte auch schon gesagt:“ Nur ein toter Bausoldat ist ein guter Bausoldat“ Wer musste uns da noch über die Ideale des Kommunismus belehren?
Uns Bausoldaten ließ man zur Genüge spüren, dass wir hochgradig verdächtige und gerade noch geduldet waren. In den Kompanien der Kaserne wurden die Soldaten unterwiesen, keinerlei Kontakt mit uns aufzunehmen, wir seien asoziale, arbeitsscheue und staatsfeindliche Elemente. Eine strikte Trennung bei den Mahlzeiten war auf Dauer nicht durchzuhalten. So gab es doch immer wieder Gespräche und interessierte Fragen. Obwohl ein Besuch in der Baracke der Bausoldaten bei Strafe verboten war, kamen Soldaten der Kompanien oft um mal ihrem Herzen Luft zu machen oder einfach auf eine Stunde Asyl vor Schikanen.


Die Bibel ganz neu
Nach einem Gespräch mit einem Arrestanten der normalen Truppe, der wegen eines Briefes an seine Freundin zehn Tage in den Arrest ging schrieb ich in mein (illegales) Tagebuch eine Psalmtransformation zu Psalm 55. Den Brief hatte man gefunden, weil seine Freundin sich das Leben genommen hatte.
O Gott, achte auf mein Flehen!
Erhöre mich!
Keuchend stöhne ich unter der Gasmaske.
Das Geschrei der Offiziere macht mich rasend.
Die Angst vor den Anläufen ihrer Willkür peinigt mich tag und Nacht.
Sie überhäufen mich mit sinnlosen Befehlen.
Ein Spielball ihrer Launen bin ich.
Mir springt das Herz aus dem Leib,
zu ersticken glaubte ich schweißgebadet im Schutzanzug.
Die Knie werden mir weich vor Härtetesten, Physischer Ausbildung, Sturmbahn und den Hetzrufen der Befehlshaber.
Ich dachte: Wäre ich doch ein Vogel.
Ich flöge über den Stacheldraht und käme zur Ruhe.
Weit möchte ich fliegen. Eine Nacht nur verbringen mit meiner Liebsten.
Sicher geborgen wäre ich in ihren Armen vor Falschheit,
Menschenverachtung und Erniedrigung.
Doch man riß mich für lange Zeit von ihrer Seite.
Fahre dazwischen, Herr, laß sie sich auf die Zunge beißen!
Annuliere ihre Befehle. Denn ich sehe nur Rohheit und Gewalt.
Die Posten umschleichen uns mit Maschinenpistolen in der Nacht.
Zu jeder Zeit warten böse Überraschungen auf mich.
Bespitzelung, Verrat und Unterdrückung herrschen in der Kaserne.
Nicht nur feindselige Vorgesetzte beschimpfen mich
und wagen sich alle Frechheiten. Ich würde es ertragen.
Nein, selbst mein Kamerad, dem ich Vertrauen schenkte
fällt mir in den Rücken.
Nichts als Schrubber, Bohnerkeulen und Flüche erwarten mich unter meinesgleichen.
Ach was soll ich sie unnütz verwünschen?
Zu Gott will ich rufen.
Früh Mittags und abends seufze und stöhne ich - er hört es.
Er holt mich hier raus.
Er schafft mir Inseln vor den unzähligen, denen ich ausgesetzt bin.
Gott ist groß und beugt sich doch nieder.
Der Stacheldraht hält ihn nicht zurück.
Für immer wird er ihn zerreißen.
Dir, Herr, gelten ihre Angriffe.
Ihre schmeichelnden, glatten Worte mit psychologisch durchdachter Berechnung
sind doch nichts als entsicherte Pistolen.
Du wiegst sie in Deiner Hand, Herr,
und weißt, wie du mit ihnen verfährst.
Ich bleibe dabei: Auf dich setze ich mein Vertrauen.
Wirf auch du deine gehetzte Seele vor den Herrn!
Er hält dich aufrecht!
Er gibt den, der ihm vertraut, nicht schutzlos preis.
Waldsieversdorf am 21.7.1984


Die Psalmen hatten es uns ohnehin angetan. Da fand sich manches, was auf uns passte. Psalm 126 hatte als „der große E-Psalm“ besonderen Stellenwert und wurde bei besonderen Anlässen feierlich gelesen:
Ein Heimfahrtslied
Als der Herr das Los unserer Gefangenschaft wendete,
da waren wir alle wie Träumende.
Da war unser Mund voll Lachen und Jubel.
Da sagte man draußen: „Gott sei Dank!“
Wende doch, Herr das Geschick aller jungen Männer, wie das Unsere.
Nach Tränen beim Abschied jetzt jubelnder Empfang.
Wir gingen hin unter Tränen. Was wir ertrugen, drückte uns schwer.
Aber mit Jubel kommen wir wieder - Entlassung - um manche Erfahrung gereift.

Aber auch sonst lasen wir die Bibel mit neuen Augen. Altbekannte Texte sprangen einen plötzlich an und waren gegenwärtig. Auch die Vielfalt der Christen weitete den Horizont gewaltig.

Gelebte Ökumene
Unser kleiner Zug von 25 Bausoldaten war aus allen möglichen Konfessionen zusammengesetzt. Das erste halbe Jahr teilte ich mein Zimmer mit zwei Katholiken, einem Lutheraner und einem Nichtchristen. Da gab es natürlich viel Zeit zu Gesprächen. Man lernte einander kennen und schätzen. Sonntags gestalteten wir gemeinsame Gottesdienste und Andachten. Wir sangen zusammen, beteten, teilten Freud und Leid und suchten Trost und Zuspruch in Gottes Wort. Nie ging es um Rechthaberei, immer darum, dass das Wort in unserer Mitte lebendig und hilfreich wurde. Mich berührte die liebevolle Aufmerksamkeit der Katholiken und ihr unermüdliches Gebet frühmorgens vor der Arbeit in ihrem Heizungskeller. Ich war dankbar für die Impulse des jungen Lutheraners, der nach der Fahne Theologie studieren wollte. Er hatte anregte, Friedensgebete abzuhalten und aktuelle Themen zu bearbeiten und zu diskutieren. Ich hielt zwei Themen über Dietrich Bonhoeffer und die Frage nach dem Christen in politischer Verantwortung. (Wofür ich mir eine Vorladung vor den Stabschef einhandelte). Er sagte mir einmal, ich sei der erste liebenswürdige Adventist, den er kennen gelernt hätte. Das Kompliment schmeckt mir bis heute bitter. Wir haben Freundschaften begründet, die noch heute lebendig sind und wir haben einander als vollwertige Christen akzeptiert. Und manchen habe ich in dieser Zeit von einem hohen frommen Ross heruntersteigen oder fallen gesehen.
Dort bei der Armee erlebten wir eine Ökumene, die unser Christsein prägte. Wir entdeckten den Bruder. Und diese Entdeckung ist mir bis heute wichtiger geblieben als die Frage wer denn nun am richtigsten glaubt.
Wieviel haben wir miteinander gesungen! Die Gitarren fehlten nie.
Die Abende an denen wir bis in die Nacht Volkslieder schmetterten vergesse ich nie. Mit  Inbrunst und allen verfügbaren improvisierten Instrumenten und Schlagwerk sangen wir „Die Gedanken sind frei“ oder „Sag mir, wo die Blumen sind“ und ähnlich anrüchige Lieder bei denen man auch die Faust in der Tasche ballt.
  

Verlorene Zeit?
Wen wundert‘s, dass ich diese Zeit bis heute nicht nur beklage, sondern auch dankbar für diese Zeit bin. Zwar habe ich entscheidende Jahre in der Entwicklung meiner beiden ältesten Söhne verpasst und gerade las ich in einem Brief, das meine Frau in dieser Zeit vorschlug, dass wir uns nach der Armeezeit noch ein drittes Kind anschaffen sollten damit ich das versäumte nachholen könnte. Aber das was ich in dieser Zeit erfahren und erlebt habe möchte ich bis heute aus meiner Biografie nicht streichen.
Hier ein paar Zeilen aus meinem „goldenen Brief“, dem letzten aus Waldsieversdorf bei Buckow vom 21. Oktober 1984: „Nun sind‘s noch drei Tage. Und wie schnell sind auch die noch vergangen. Alles Zeit, die irgendwie nie wieder kommt. Ist ja auch ein Glück und doch ist‘s ein gutes Stück Leben, was Geschichte geworden ist, vorbei, höchstens noch in der Erinnerung
wach - für wie lange?! Ich bin sehr glücklich, wenn ich trotz allem feststelle, daß es gerade für uns beide nicht völlig verlorene Zeit war. Manchmal schein es mir, wir hätten für uns Zeit gewonnen, würden in unserer Liebe weiter (nicht älter, nein jünger) sein, als wir vielleicht in 1 1/2 Jahren normalem Predigerstreß gekommen wären...“
Johannes Scheel



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