Gedanken nach dem Lesen des Buches

Forum Thema:
Gedanken nach dem Lesen des Buches "Geheime Aufzeichnungen eines Bausoldaten in Prora”

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19.8.2012
Dr. Johannes Hartlapp     


Stefan Wolter (Hg.) „Geheime Aufzeichnungen eines Bausoldaten in Prora. Courage in der Kaserne, der heutigen Jugendherberge“, Projekte-Verlag Cornelius, Halle/Saale 2011, 203 S. 14,50

Die Beschäftigung mit der DDR-Geschichte wird zunehmend ambivalent diskutiert. Warum zurückschauen, wenn doch schon so viel über die vierzig Jahres des deutschen Sozialismus-Experimentes geschrieben wurde? Ist nicht schon alles gesagt? Was kann das Tagebuch eines Bausoldaten für die Aufarbeitung der DDR-Zeit bedeuten? 

Wer solche oder ähnliche Fragen stellt, wird beim Lesen der Tagebuchaufzeichnungen des Leipzigers Uwe Rühle eines Besseren belehrt. Hier schreibt niemand aus einer durch die friedliche Revolution geläuterten Perspektive. Die Berichte des Proraer Bausoldaten lassen den Leser die 18-monatige Dienstzeit bei der Nationalen Volksarmee der DDR ganz authentisch erleben. Der frühe Tod des Autors im Jahr 1989 verhinderte eine späte Ausschmückung oder die Anpassung an Vorgaben eines Verlages. Was hier gedruckt wurde, ist der hautnahe Bericht eines Bausoldaten, der in seinem Tagebuch die Gedanken festgehalten hat, die ihn während der Dienstzeit bewegten.
Das Tagebuch dokumentiert gerade die Momente, die in besonderer Weise die jungen Wehrdienstleistenden beschäftigt haben. Am ausführlichsten berichtet Rühle deshalb von der Einberufung und den ersten, für die Rekruten zum Teil schockierenden, Tagen.   Dabei sind es weniger die äußeren Abläufe des bis ins Letzte geplanten Ablaufs eines Armee-Alltages. Es sind auch nicht die kleinen und großen Schikanen, mit denen die Vorgesetzten gegenüber den Bausoldaten ihre Macht demonstrierten. Es ist vor allem der innere Widerspruch des Systems, dem der Autor sich ausgesetzt sieht. Hier versucht ein junger, denkender DDR-Bürger als Christ das System NVA zu verstehen, ohne dabei seine normalen Menschenverstand zu verlieren. Mit seinen Fragen und Schlussfolgerungen demaskiert er die heile Welt der damaligen DDR. Dieser Widerspruch tritt umso deutlicher dadurch zutage, weil die Kasernen in Prora ein einem landschaftlich so reizvollen Gebiet unmittelbar an der Ostseeküste liegen. Hier wäre ein Ort zum Erholen aber nicht zum Ableisten des Wehrdienstes. „Der krasse Gegensatz zwischen der herrlichen, großartigen Natur und dieser widerwärtigen Einrichtung trat immer deutlicher zutage. Was mochte der Gott da oben denken, wenn er das Treiben der Menschen hier sah?... Was für ein Widersinn.“ (64f)

Die Tagebuchaufzeichnungen beschreiben in besonders eindrücklicher Weise, welchen  Spannungsfeldern sich ein junger Christ bei den Baueinheiten der NVA ausgesetzt sah. Wer sich für die Bausoldaten entschieden hatte, erfuhr schon bei der Musterung kälteste Ablehnung. Vielfach wurden die jungen Leute eingeschüchtert. Mit der Entscheidung für diese Form des Wehrersatzdienstes hatten sie sich gleichzeitig damit abgefunden, in den meisten Fällen eine exponierte berufliche Karriere bzw. ein Studium abzuschreiben. Und jetzt sollten diese jungen Leute, die bewiesen hatten, das sie selbstständig zu denken in der Lage sind, teils sinnlosen Befehlen gehorchen und ihr eigenes Denken am Kasernentor an den Nagel hängen? Dazu kam, dass viele der Bausoldaten den oft nur schlicht begabten Offizieren intellektuell weit überlegen waren. Wie sollte man z.B. reagieren, wenn vor der Ausgabe der Urlaubsscheine erwartet wurde, dass alle Betreffenden die jeweiligen Reiseutensilien hochhalten sollten, ohne die kein Urlaubsschein ausgegeben wurde: Kamm, ein sauberes Taschentuch, Nähzeug, 5 Mark, Wehrdienstausweis, Schal, Handschuhe? (96) Sollte man Lachen, Provozieren oder so tun, als handele es sich um das Wichtigste der ganzen Welt?

Der Bericht von Uwe Rühle kennzeichnet in erschreckender Weise ein grundlegendes Dilemma der NVA mit den Bausoldaten. Einerseits war es die sozialistische Staatsmacht, die den Ersatzdienst in den Baueinheiten als legale Möglichkeit eingeführt hatte. Auf der anderen Seite aber mussten die Bausoldaten vor den anderen Wehrdienstleistenden als Staatsgegner kriminalisiert werden. Deswegen wurden ihnen gegenüber Rechte eingeschränkt, die für andere Soldaten selbstverständlich waren. Auf diese Weise konnte kein Vertrauen entstehen. Der permanente Konflikt war vorprogrammiert.

Ein großer Teil des Tagebuchs beinhaltete Berichte von sinnlosen Auseinandersetzungen, die dadurch entstanden, dass die Vorgesetzten es offensichtlich nicht ertragen konnten, wenn z.B. die Arbeitsleistungen der „Spatensoldaten“ von den zivilen Betrieben, denen sie beim Bau des Hafens Mukran zugeteilt waren, gelobt wurden. Oder wenn in der Mitte der Dienstzeit ohne ersichtlichen Grund die vorgesetzten Unteroffiziere und Offiziere gegen andere ausgetauscht wurden, die nun nach dem Grundsatz „neue Besen kehren gut“, ihre Autorität mit provozierenden Schikanen meinten unter Beweis stellen zu müssen. Immer wieder ist auch davon die Rede, wie die ohnehin viel zu seltenen Urlaubsmöglichkeiten ganz bewusst als Machtmittel zur Erpressung missbraucht wurden.

Es ist deshalb nur zu verständlich, dass die Bausoldaten alle Mittel ausschöpften, um über Beschwerden und Eingaben an den Minister bzw. das Ministerium der Verteidigung ihre Verhältnisse zu verbessern. In den meisten Fällen scheiterten sie aber, wobei es nicht die fehlenden Möglichkeiten der Armee waren, sondern die Unfähigkeit vieler Vorgesetzter zum Dialog. Am Ende blieb nur die Demonstration der Macht vonseiten der Vorgesetzten. „Wieder einmal standen hier junge Menschen in verzweifelter Wut vor den Früchten ihrer völligen Rechtlosigkeit, ohnmächtig einem grinsenden Vorgesetzten gegenüber.“ (163) Der Autor ist ehrlich genug, auch selbstkritisch mitzuteilen, dass nicht alle Bausoldaten die Friedfertigkeit, die sie sich beim Dienstbeginn gemeinsam vorgenommen hatten, durchhielten und dann, wenn die Nerven blank lagen, auch mit gehässigen Bemerkungen oder unpassenden Aktionen reagierten oder die Vorgesetzen austricksten. Aber gerade diese Facetten des Tagebuchs unterstreichen seine Authentizität und steigern damit seinen Wert.

Der Herausgeber Stefan Wolter stellt dem Tagebuch eine Einführung voran, in der er die Geschichte der Bausoldaten in Prora skizziert und die historische Besonderheit der Kasernengebäude einschließlich ihrer Nutzung bis zur Gegenwart beschreibt.  Eine kurze Biografie Uwe Rühle (1956-1989) lässt den Leser mit dem Autor vertraut werden und bereitet so auf ein besseres Verständnis des Tagebuchs vor. An den Schluss des Buches setzt der Herausgeber einen Vergleich der Aufzeichnungen Uwe Rühles mit den beiden ähnlichen, bereits erschienen Tagebuchaufzeichnungen Proraer Bausoldaten (Wolter, Hinterm Horizont allein – Der Prinz von Prora und Brösing, Der Bausodat). Diese Zusammenschau wird für alle ehemaligen Proraer Bausoldaten mehr von Bedeutung sein als für den allgemein interessierten Leser.

Für welche Lesergruppe sind die Tagebuchaufzeichnungen Uwe Rühles von besonderem Interesse? Zuerst werden es natürlich die ehemaligen Proraer sein. Dann alle anderen, die der NVA Lebensjahre geopfert haben, ganz gleich ob als Bausoldat oder in andern Einheiten. Der Ton, ja der typische NVA-Jargon, den Uwe Rühle festgehalten hat, wird ihre Vergangenheit in besonderer Weise lebendig werden lassen. Darüber hinaus eignet sich die Biografie ganz hervorragend für alle, die sich mit der Aufarbeitung der DDR beschäftigen. Die gut gegliederten Kapitel und die klare Sprache eignen sich sehr gut für den Schulunterricht, auch als  Gegenüberstellung zu den offiziellen Propagandatexten. Nicht zuletzt werden alle, die nach Beispielen für kritisches, gewaltloses Handeln in der DDR suchen, hier ein leuchtendes Beispiel von Zivilcourage und gewaltloser Konfliktlösung finden.

Dr. Johannes Hartlapp
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