Entlassung

Ein Traum ging in Erfüllung – die Entlassung

Während meiner Bausoldatenzeit in Prora litt ich regelmäßig unter Alpträumen. Oft wachte ich auf und war dann froh, dass ich „nur“ in Prora im Bett lag.
In einer Nacht im Winter 1987 träumte ich etwas merkwürdiges, etwas sehr schönes. Ich träumte von der Entlassung. Ich träumte diesen Traum so intensiv, dass ich am Morgen Mühe hatte, zu begreifen, dass es noch nicht die Wirklichkeit ist. Die Bilder aus diesem Traum sind mir bis heute erhalten geblieben.
Er spielte natürlich in Prora. Der Koloss sah anders aus und war auch kleiner. Es war traumhaft schönes Wetter. In Zivil ging ich gemeinsam mit den anderen zum Tor hinaus. Es war einfach offen.
Dann riss mich allerdings der UvD aus dem Schlaf und aus dem schönen Traum heraus.
Es war wie immer früh 4.00 Uhr. An diesem Morgen schleppte ich mich nicht so müde zum Waschraum wie sonst. Der Traum hatte mir irgendwie neue Kraft gegeben. Er war für mich eine Vision.
In dieser Zeit wusste ich allerdings, dass der Traum nicht komplett in Erfüllung gehen konnte. Das gemeinsame Verlassen der Kaserne war aus meiner Sicht deshalb nicht möglich, weil immer noch die 3 Tage Nachdienzeit auf mir lasteten. 3 Ewigkeiten länger in Prora bleiben, als die anderen. Das belastete mich wirklich schwer.
In der Zeit als ich den Traum hatte, ging es mir auf der Baustelle nicht schlecht. Als „Kaffeekocher“ in Borchtitz konnte ich mich nicht beklagen. Ich wusste aber auch, dass ich jeder Zeit wieder versetzt werden konnte. Meistens geschah es dann, wenn man sich gut eingerichtet hatte. Und so kam es dann auch. Einige Wochen vor der Entlassung wollte man mir noch einmal zeigen, was Mukran wirklich bedeutet. Wie zu Beginn meiner Bausoldatenzeit wurde ich wieder in die Kabelgräben geschickt. Ich war sehr wütend. Erst später begriff ich, dass es ein Glücksfall war.
Aus irgendeinem Grund sollte es für diese Schachtgruppe Belobigungen geben, obwohl nicht mehr oder weniger gearbeitet wurde, als sonst auch. Vielleicht brauchte irgendein Vorgesetzter diese Belobigung, um Pluspunkte für eine Beförderung zu sammeln? Oder lag es an der guten Beziehung des Arbeitsgruppenführers zum zivilen Baumeister? Wer weiß ...
Bei einer Belobigung konnte manchmal sogar ein zusätzlicher Urlaubstag heraus springen.
Meine Nachdienzeit zählte aber wie eine noch offene Strafe, die eine Belobigung unmöglich machte. Und sie passte damit auch nicht in das Bild dieser Arbeitsgruppe. Bei einem der üblichen Appelle wurde mir dann völlig überraschend diese harte Strafe erlassen.
Gemeinsam mit den anderen nach Hause fahren, das hatte ich einige Wochen davor geträumt. Nun konnte es Wirklichkeit werden.
Am 28. April 1987 war es dann endlich soweit. Wie immer wurde früh um 4.00 Uhr geweckt. Diesmal übernahm aber nicht der UvD das Wecken, sondern der kleine Bausoldaten- Posaunenchor. Sie spielten so früh am Morgen ein altes bekanntes Abendlied aus dem Erzgebirge. „s´is Feieromd ...“ (Hochdeutsch: „Es ist Feierabend“) Mir standen die Freudentränen in den Augen. Dann ließ man uns noch einmal „rundlaufen“. Man erklärte uns, dass wir erst raus können, wenn alles vorbildlich aufgeräumt und gereinigt ist. Spind ausräumen, Armeekleidung abgeben, Zimmer reinigen ... Auch die Spinde mussten noch einmal in die Mitte des Zimmers gerückt werden, um dahinter zu bohnern. Bei dieser Gelegenheit wurde dann noch eine mutmachende Nachricht für unsere Nachfolger an die Rückwand des Spindes geschrieben.
Fast hätte ich nicht bemerkt, was sich draußen abspielte. Ein herrlicher Frühlingstag erwachte, verbunden mit einem Sonnenaufgang über der Ostsee. Mein Traum, meine Vision ging in Erfüllung.
Irgendwann am Vormittag wurde dann endlich die Tür zu einem Raum geöffnet, in dem diese wertvollen Päckchen standen, die wir aus dem letzten Urlaub mitbringen durften. Der Inhalt: Zivile Kleidung. Nun setzte eine Art Metamorphose ein. Wie bunte Schmetterlinge, die sich aus dieser graugrünen Hülle befreiten, um so schnell wie möglich hinaus zu fliegen. So sah ich die ehemaligen Leidensgenossen.
Manche hatten sich extra schicke Kleidung aus dem Westen besorgt, um diesen Tag würdig zu begehen.
Noch einmal drohen uns die Vorgesetzten. Wir seien trotz der zivilen Kleidung immer noch Angehörige der NVA, solange, bis wir in der Heimat unseren Personalausweis abgeholt hätten. Damit wollte man die überschwengliche Freude ausbremsen.
Dann endlich der Befehl, unten auf der Betonstraße neben der Turnhalle anzutreten zum Abmarsch. Ein letzter Blick hinaus auf die Ostsee und dann hüpfte ich leichtfüßig die Treppe hinunter. Das letzte Mal aufstellen in der üblichen Dreierreihe, dann setzte sich die Kolonne in Bewegung. So wie in dem Traum geht es hinaus durch das geöffnete Tor zum Bahnhof von Prora. Diesmal holt mich allerdings kein UvD wieder zurück. Dann kam er, dieser ersehnte „E-Zug“. Wegen dem Gedränge konnte er nur ganz langsam in den Bahnhof einfahren. Unglaublicher Jubel bricht aus. Die Wagen werden gestürmt, als hätte man Angst, dass die Letzten wieder zurück in die Kaserne müssten. Ich blicke noch einmal hinaus auf den Bahnhof von Prora. Dort stehen nur noch die Vorgesetzten. Bald werden sie hier unsere Nachfolger in Empfang nehmen. Alles geht dann von vorne los.
Ich zwinge mich, das Trauma zu vergessen. Fast 20 Jahre ist mir das wirklich gelungen, bevor mir ein Buch zeigt, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit etwas sehr wichtiges ist.
                                                       Tobias Bemmann (Bausoldat von November 1985 - April 1987)

Wenige Wochen vor der Entlassung. Gemeinsamer Ausgang mit den Zimmerkollegen zum Rugard in Bergen.

Sonnenaufgang am Entlassungstag.

Am Bahnhof von Prora. Warten auf den E-Zug.

Am Bahnhof von Prora. Warten auf den E-Zug.

Abschied von den Zimmerkollegen.

Ein lange ersehnter Augenblick: Der E-Zug rollt langsam in den Bahnhof von Prora ein. Ein unglaublicher Jubel bricht aus.

Der E-Zug wird gestürmt.

Hinweis: Sollte jemand auf einem der Bilder nicht öffentlich dargestellt werden wollen, bitten wir um eine kurze Info. Das Bild bzw. der Ausschnitt wird dann umgehend entfernt.

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