Emanuel

Proraer Bausoldaten - 1989
Ein Bericht von Emanuel (ehemaliger Bausoldat) (E-Mailadresse Nr. 10)

Motivation

Im Sommer 2007 besuchte ich nach 18 Jahren erstmals wieder die Insel Rügen. Ich wagte dabei auch einen Abstecher nach Prora, zumal ich gehört hatte, dass im KdF-Bau eine Ausstellung über Prora als Militärstützpunkt ist. Ich war voller Neugier.
Die Zeit in der ich 1989 als Genosse Bausoldat in Prora war, liegt weit zurück. Es war eine sehr unangenehme Erinnerung, die aber mit den Jahren in Vergessenheit geriet.
Beim Anblick von Prora kam dann doch vieles wieder hoch und spätestens als meine Wut über diese Selbstbeweihräucherungsausstellung „verdienter“ Genossen Offiziere zu kochenbegann, merkte ich, dass Prora doch noch nicht so weit weg ist.

Ein paar Worte vorab

Auch wenn ich mit Sicherheit nicht zum Schreiben geboren bin, so will ich doch etwas aus meiner Zeit in Prora berichten, in erster Linie wohl einfach für mich selbst, aber angenehm natürlich, wenn das noch jemanden heute interessiert. Vieles ist vergessen, da es keine Tagebuchaufzeichnungen gibt, muss ich mich ausschließlich auf mein Gedächtnis verlassen, wobei ich nicht ausschließen kann, dass es mich hier und da täuscht.
Ich habe in den letzten Tagen sehr viel über Bausoldaten gelesen. Es ist mir bewusst, dass meine Zeit bei der verhassten Armee, nicht zuletzt auch wegen der Kürze, eher den Charakter eines Sanatoriumaufenthalts hatte. Dass dieser Aufenthalt in Prora so kurz werden würde, wagte ich damals nur zu hoffen. Hätte ich damals gewusst, dass der Spuk nach nur einem Monat vorbei sein würde, hätte ich wohl vieles leichter genommen.
Vor diesem Hintergrund ist das nachfolgend geschilderte geradezu unbedeutend. Ich ziehe meinen Hut vor denen, die vor mir, unter viel schlechteren Rahmenbedingungen ihre Zeit in der NVA erlebt und überlebt haben. Vielleicht ist das eine oder andere aber interessant, weil nur sehr wenige Bausoldaten die Wende in den Kasernen erlebt haben.
Vor kurzem überlegte ich, ob ich das Erlebte nicht einfach einmal aufschreibe. Einen für andere interessanten Beitrag zu Papier zu bringen war dabei nie das Ziel. Ich war mir auch sicher, dass ich mich an vieles nicht mehr entsinnen kann. Umso überraschter war ich, als ich mich dann doch an vieles sehr genau erinnern konnte. Einiges bleibt aber im Nebel, besonders oft sind es Namen. Ich erinnere mich an Hunderte Erniedrigungen, bin aber nicht mehr imstande, diese zu beschreiben, entweder weil ich sie verdrängt habe, oder aber weil sie so klein, in der Summe aber einfach zu groß waren.
Ich weiß, dass ich mich in Nebensächlichkeiten verliere. Mir war es aber wichtig, viele Details einfach zu benennen, damit ich sie einfach nicht vergesse, ohne dass diese Details wirklich einen bedeutsamen Informationsgehalt haben.
Bei der Beschreibung hole ich sehr weit aus, weil ich auch die Motivation, Bausoldat zu werden und der Weg dahin interessant sein können. Diesbezüglich war ich ein kleines Licht, auf keinen Fall ein Held, dafür aber sehr ängstlich.
Ich  war damals 19, sehr jung,  nicht allzu  weitsichtig.  Jetzt bin  ich fast doppelt  so  alt,  habe aber
versucht, die Gefühle und Gedanken von damals so genau wie möglich wieder zu geben.
Der nachfolgende Text wurde innerhalb einer Nacht verfasst, also „hintereinanderweg“, zum einen, weil ich nicht wusste, ob ich, wenn ich einmal aufhöre, überhaupt weiterschreibe und ob ich dann auch an den Gedanken anknüpfen könnte.

Die Zeit wird knapp

Wo fange ich an? Vielleicht so 1987/88. Ich machte zur damaligen Zeit mein Abi in Magdeburg und war im katholischen „Kreis der jungen Erwachsenen“ aktiv. Auch wenn ich „von Hause“ aus katholisch war, war es wohl weniger die Religion, sondern vielmehr viele junge, frei denkende Menschen, die mich anzogen, ein sehr unorthodoxer Geistlicher und nicht zuletzt auch viele Freizeitdinge. In diesen Kreis kam ich durch A., einen Klassenkameraden. Neben A gab es noch einen dritten Katholiken in unserer Klasse, B. Für eine Abiklasse in Magdeburg ein recht ungewöhnlicher „Schnitt“. Gegen Ende unsere Schulzeit merkte ich, dass ich immer öfter in der Schule aneckte, obwohl unsere Klassenlehrerin sehr liberal war. Ein wichtiger Punkt war die Horrorvorstellung, dass mir 18 Monate meines Lebens gestohlen werden sollten. Ich hatte keine Lust, meinen Kopf für ein System hinzuhalten, das aus meiner Sicht vollkommen krank war. Verteidigen würde ich wohl meine Familie, Freunde etc., aber kein System. Vor Augen hatte ich zudem meinen Bruder, der von 1987 – 1988 als „normaler Soldat“ bei der Armee war. Ich begleitete ihn bei der Einberufung (früh um 5) zum Domplatz und sah wie die ganze Horde wie eine Sträflingskolonne, zu Fuß, in Begleitung von Blaulicht zum Bahnhof geführt wurde. Dieses Bild fand ich schrecklich. In den darauffolgenden Monaten sah ich meinen Bruder dann natürlich sehr selten, und ich fand den Anblick jedes mal erschreckend. Was hatten sie aus meinem Bruder gemacht? Erschreckend war, dass die Repressalien nicht vordergründig von den Offizieren ausgingen, sondern Hierarchien zwischen den Soldaten geschaffen wurden, die dazu führten, dass sich die Soldaten gegenseitig fertig machten. Diese sehr persönliche Seite spielte wohl bei meiner Entscheidung, Bausoldat zu werden, eine nicht unerhebliche Rolle. Ein „politischer Held“ war ich nicht, ich hatte andere Ansichten und - Angst.
Im Jahre 1988 thematisierte ich die Sache, ob man die Waffe verweigern sollte, erstmals in der Schule bei meinen Freunden A und B, sowie bei meinen Eltern. Die Entscheidung war bei mir völlig offen. Wenn ich mich recht entsinne, hielten das A und B für ziemlich abwegig, nicht weil sie es für falsch hielten, sondern einfach für zu gefährlich. Noch viel krasser war die Reaktion meiner Eltern, die das Ablehnen der Waffe befürworteten, aber keinesfalls bei ihrem Sohn. Sie hatten Angst um mich. Was würde dann aus dem Studium werden? Es gab da einen starken Konflikt, und ich warf meinen Eltern mehr als einmal ihre Angepasstheit vor. Heute verstehe ich sie besser als damals.
Es gab an der Schule einen Geschichtslehrer, der mir durch seine unkonventionelle Art irgendwie sympathisch war und der begeistert gewesen wäre, wenn viele aus unserer relativ kritischen Klasse in die Partei eingetreten wären, um den Laden „von unten aufzumischen“. Mit dieser Art war er, das wussten wir, mehr als nur einmal angeeckt. Ich sprach mit ihm über das Thema (äußerst riskant aus heutiger Sicht). Auch er riet mir ab und fragte mich, was aus dem Land werden solle, wenn alle Leute wie ich, statt zu studieren, Straßen kehren müssen. Er hielte das für den faschen Weg. Alle empfanden meine Idee als Schnapsidee, aber wirklich überzeugt hatte mich niemand. Ich verdrängte das Ganze erst einmal.
Als Ende 1988 alle Schüler unserer Klasse zu Einzelgesprächen gerufen wurden, um sie zu überzeugen, dass sie 3 Jahre zur Armee gehen, wurde ich „übersehen“. Vielleicht hatte ich zwischendurch immer mal meine Klappe zu weit aufgemacht.

Frühjahr/Sommer 1989 - die Anzahl der Tage bis zum Beginn der Armeezeit nahm rapide ab. In meinen Gedanken endete an diesem Tag die Zeitrechnung, alle Pläne für die Zeit danach waren recht vage und interessierten mich nicht wirklich. Zu allem Glück war ich sehr verliebt, und die Aussicht auf eine so lange Trennung machte mich regelrecht krank. Ich war immer noch hin- und hergerissen, ob ich die Waffe verweigern soll. Dann informierte mich A davon, dass er Bausoldat wird, ich war sehr überrascht, und irgendwie begann auch ich noch einmal mit meinen Gedanken von vorn. Am Ende wählte auch ich den Weg, vielleicht war es ein Gespräch mit meinem Bruder, das mich letztendlich zu der Entscheidung führte.  Er  war auch der  Einzige, der weder klar Contra noch Pro waren. Auch die Pro-
Bausoldat-Seite (Kirche, weibliche Bekannte) ging mir etwas auf die Nerven, für die war das ja auch recht einfach, für meine Eltern dagegen wohl umso schwerer. Als ich dann meine Entscheidung „verkündete“ gab es dann auf der einen Seite dann auch großen Beifall für den großen „Widerstandskämpfer“, der ich aber in keiner Minute war. Noch ärgerlicher wurde ich, als dann der dritte Klassenkamerad B sagte, er „macht nicht mit“ und daraufhin als Feigling behandelt wurde. Vieles davon war nicht so offensichtlich, aber man konnte es dennoch spüren.
Bei meiner Nachmusterung äußerte ich dann meinen Entschluss, und niemand versuchte mich umzustimmen. Ich fand das sehr erstaunlich. Noch erstaunter war ich dann bei der Abschlusszeremonie der Nachmusterung, als ich aufgefordert wurde, doch einmal nachzudenken, ob es nicht an der Zeit wäre, einmal Rückgrat zu zeigen. Mit allem hätte ich gerechnet, aber damit nicht.
Vier Wochen (?) später begannen die Demos in Leipzig, dann auch in Magdeburg, es keimte Hoffnung, die Armee kam aber trotzdem immer näher und war, so dachte ich damals, unausweichlich.

Unendlichkeit

2.11.1989 – 6.02 Uhr am Magdeburger Hauptbahnhof – nie werde ich diesen Moment vergessen. Der Zug setzte sich in Bewegung, und ich musste gegen meinen Willen alles, was mir lieb war, zurücklassen. Nach vielen Tränen begann ich einen Brief zu schreiben, den ich einem Mitreisenden mitgab, der ihn in Schwerin einwerfen sollte. Ab Rostock war Schienenersatzverkehr und es war klar, dass wir nicht pünktlich in Prora ankommen würden. Zum Glück traf ich noch einen Reisenden mit diesem ominösen Karton für das Zurückschicken der Zivilsachen. Die Reise wurde also etwas leichter. Unseren Anschlusszug in Stralsund hätten wir dann doch noch bekommen, da wir aber inzwischen 5 oder 6 künftige Bausoldaten waren, wurden wir „mutig“ und speisten fürstlich in Stralsund, die Stimmung bei unserer „Henkersmahlzeit“ war aber dem Ereignis angemessen. Einen Verspätungsschein der Reichsbahn hatten wir.
Dann kamen wir in Prora an, und niemand wusste, wo wir aussteigen müssen. Mein Vorschlag, Prora- Ost, wurde akzeptiert und so landeten wir direkt in der Offiziershochschule. Dort wusste niemand etwas mit und anzufangen. Wir boten zwar an, auch gern wieder nach Hause zu fahren, dafür gab es dann aber prompt den Hinweis, dass uns das Lachen mit Sicherheit noch vergehen würde. Etwas eingeschüchtert wurden wir dann am Koloss entlanggeführt und dann unseren künftigen Bewachern übergeben. Wir wurden in eine Sporthalle geführt, als Mensch ging man rein, und als Nummer kam man raus. Man bekam Militärsachen und zum Schluss musste man Zivil ausziehen und in diesen braunen Trainingsanzug überstreifen. Dann standen wir bei einer ziemlichen Kälte im Hof, wohl ungefähr eine Stunde. Da es dunkel war, konnte man die Tränen nicht sehen, peinlich, denn es war ja noch nichts passiert, aber ich war wohl nicht der Einzige.
Dann wurden wir auf die Zimmer aufgeteilt, und jeder überlegte, wer wohl ein Stasispitzel sein könnte. Ich habe es nie rausgefunden, auch wenn ich da eine Vermutung hatte. Mir fällt auf, dass ich mich trotz großer Anstrengung nicht mehr an die Namen, merkwürdigerweise aber an einige Herkunftsorte erinnere: Schwedt(!), Berlin, Goldberg und ein Kaff in Sachsen.
Unsere Grundausbildung begann, dauerte aber nur 3 oder 4 Tage. Die Offiziere waren überwiegend ekelhaft, aber ich vermute deutlich zahmer als bei denen, die in den Jahren zuvor gekommen waren. Mir reichte das schon. Auf dem Zimmer kamen wir ganz gut miteinander klar, auch wenn sehr schnell deutlich wurde, wie unterschiedlich die einzelnen „Genossen“ waren. Da gab es zwei äußerst sensible (ein Berliner, der Zeuge Jehovas war und ich), zwei die das recht gelassen sahen und einen, der sich aus meiner Sicht sehr stark bei den Offizieren anbiederte. Plötzlich saß ein Uffz bei uns auf der Stube und bot Schnaps an. Soweit ich mich entsinne, wollte nur einer etwas. Ich beschäftigte mich in den wenigen freien Minuten ausschließlich mit dem Schreiben von Briefen und träumte mich in die Arme meiner damaligen Freundin. Sie war sehr jung und konnte mit meinem Gefühlschaos wohl nichts so richtig anfangen. Trotz täglicher Briefe hatte ich schon nach zwei Wochen das Gefühl, dass ihre Zeilen immer kühler wurden. So richtig konnte und wollte ich das aber nicht sehen.
Von den 542 Tagen waren immer noch 535 übrig. Ich zählte die Tage, die Stunden. Schon sehr schnell merkte ich, dass das Klima zwischen den Bausoldaten sehr gut war. Es gab Trost für die Sensiblen, Unterstützung für die Aufmüpfigen und Essen für Kjeld. Kjeld (den Spitznamen hatte er wohl aus irgendeiner Zeichentrickserie) aß recht gern und ging jeden Tag zum Arzt. Natürlich hatte er nichts, wusste aber, dass ihm niemand das Recht nehmen konnte, sich als krank beim Arzt vorzustellen. Folgen waren ein Spind voller Medikamente und Offiziere, die ihn durchschaut hatten und dafür sorgten, das Kjeld nie pünktlich zum Essen kam. Der Arme aß aber dreifache Portionen und die Strafmaßnahme konnte durch die Genossen Bausoldaten nur durch Schmuggel ihrer Wirksamkeit beraubt werden. Ich bekam in dieser Zeit den Spitznamen „Häuptling Knitterjacke“. Da ich damals sehr schlank war und extrem lange Arme habe, musste ewig gesucht werden, bis ich eine passende Winterdienstuniform bekam. Die Arme passten, aber ich hätte ungefähr dreimal in dieses schicke Kleidungsstück gepasst. Fortan halfen mir meine Kollegen und falteten die Jacke mehrfach auf meinem Rücken, bevor dann alles mit einem Gürtel festgezurrt wurde.
Die Vorgesetzten, deren Namen ich fast ausnahmslos vergessen habe, versuchten es mit dem Herausgreifen und Fertigmachen Einzelner oder vereinzelt auch mit Anbiederungsversuchen. Ein „Genosse“ blieb mir in Erinnerung. Er hieß, so glaube ich, N*******. Ich hatte eine kurze Frage, die nur er klären konnte. Er hat mich eine halbe Stunde immer wieder anklopfen und hereintreten lassen. Irgend etwas an meinen Meldungen stimmte nicht, obwohl ich vorschriftsgemäß „Genosse Unteroffizier(?), gestatten Sie, dass ich spreche“ aufsagte. Als ich das erste Mal wieder rausgeschickt wurde, fasste ich mich draußen an den Kopf, beim fünften Mal war ich wütend, beim zehnten Mal den Tränen nahe und bei zwanzigsten Mal hätte ich ihn am liebsten erwürgt.
Es gab aber auch positive Ausnahmen. Ein Major beendete eine Marschierübung, bot uns die Gelegenheit uns hinzusetzen und zu rauchen und sagte: „Sie wissen so gut wie ich, dass es vollkommen unklar ist, wie lange sie noch hier sind und wie lange ich noch hier bin. Machen wir uns also das Leben nicht gegenseitig schwer.“ – War dies Vernunft, pure Anbiederei, der Versuch, die eigene Haut zu retten?
Nach unserer Grundausbildung durften die Eltern kommen, wenn ich mich recht entsinne, war dies am 10.11. Von der Grenzöffnung wussten wir noch nichts, und wenn ich mich recht entsinne, auch meine Eltern noch nicht allzu viel. Es war ein Freitag oder Samstag (?). Unser „Gelöbnis“ sprachen wir nicht mit, den Mut gar nicht erst hinzugehen hatten erst die Mitte November einrückenden Bausoldaten.
Der Besuch aus der Heimat war recht ernüchternd, hatte ich doch in erster Linie auf meine Freundin gehofft, die musste aber zur Schule. Die paar freien Stunden verbrachten wir in Binz, es gab einen Strandspaziergang und sehr viel Essen. Meine Eltern waren mit einem Bekannten gekommen, dessen Sohn ich nicht kannte, der aber auch Bausoldat in Prora war. Abends mussten wir zurück in die Kaserne, am nächsten oder übernächsten Tag begann unsere Arbeit in Mukran. Wir mussten sehr früh (um 4) aufstehen und wurden dann zum Fährhafen gefahren. Unsere Aufgabe bestand im Entladen von Güterzügen. Es gab nur ein „Problem“, wir haben während des gesamten Einsatzes nicht einen Güterzug gesehen. Die Lokomotiven waren möglicherweise im „Feindeinsatz“. Ließen sich Offiziere blicken, wurden wir mit sinnlosen Aufgaben bedacht, doch meist waren wir auf uns allein gestellt. Eine gut beheizte Baracke machte den Aufenthalt erträglich. Da ich immer unglaublich müde (und wohl auch der Jüngste der Brigade war) schickten mich meine Kollegen auf die einzige vorhandene Liege. So schlief ich dem Ende der Armeezeit entgegen, das mit mehr als 500 Tagen immer noch in weiter Entfernung lag. Gegen Abend begann dann immer der Stress in der Kaserne, die eigentliche „Arbeitszeit“  in  Mukran  war da doch um einiges  angenehmer. Dann bekamen wir eine Anschläger-
Ausbildung in Mukran. Das Ganze war – schon wegen des Begriffs – eher belustigend. Dass dabei Menschen ihr Leben lassen mussten, habe ich erst jetzt, fast 20 Jahre danach, erfahren.
Am 15.11. kam die zweite Gruppe Neuankömmlinge Bausoldaten. Wir durften die Zimmer vorbereiten. In einem der Zimmer fand ich einen 542-Mark-Schein, ein handgemaltes Exemplar eines Bausoldaten aus dem Jahre 1988. Er war bis vor kurzem in meinem Besitz, ist aber leider spurlos verschwunden. Wir hofften, dass wegen der Grenzöffnung keine Bausoldaten mehr kommen, wurden aber bitter enttäuscht. Im Gegensatz zur letzten Gruppe (die am 30.11. kommen sollte), waren fast alle Leute da, und siehe da – auch A aus der Heimat. Die Wiedersehensfreude war groß, auch wenn die Umstände belastend waren.
Nach dem missratenden Versuch, der zweiten Gruppe ein Gelöbnis abzuringen gab es aber auch für sie die Möglichkeit des Ausgangs, allerdings nur wenn Besuch aus der Heimat ankam. Ich wurde als Melder verpflichtet und rannte den ganzen Vormittag vom Pförtner (hieß der überhaupt so?) in den Koloss, um die ankommenden Familien zu melden. Am Ende waren alle Bausoldaten draußen, obwohl recht wenige Besucher kamen. Mit wurden von den Kollegen Zettel mit den Namen zugesteckt, so dass ich bei jedem ankommenden Besucher noch ein paar dazudichten konnte.
Unsere Politausbildung eskalierte immer häufiger. Ein Bausoldat stand auf (es war in irgend einem Kinosaal) und rief: „Ich verbitte mir die Anrede Genosse“ – „Empfinden Sie das etwa als Beleidigung?“ – „Ja“. Wir schauten uns an und fragten uns, ob dies Mut, Wahnsinn oder eine von der Stasi inszenierte Provokation ist.
Dann kam der Befehl für einen Einsatz auf der Volkswerft Stralsund. Ein Teil der Bausoldaten wurde zum Dänholm verlegt, es war am einem Sonntag. Zum Glück war mein Freund A mit in der Gruppe. Prora war sehr unangenehm, aber gegen den Dänholm ein Freizeitpark. Die Anzahl der Bausoldaten, die auch eine gewisse Stärke ausmacht, war hier doch deutlich geringer. Der Druck und die Repressalien wurden immer unerträglicher. Einzig ein Offizier, der sich für vier Jahre verpflichtet hatte, kam in unser Zimmer, in dem ich in einem Moment allein war und meinte: „Hier haben sie es doch ganz gut getroffen. Da kriegen sie die 11/2 Jahre schon rum.“ Ich habe keine Ahnung warum. Aber da platzte mir der Kragen und ich schrie ihn an: „Ich wollte hier nicht her. Ihr habt mich hier gegen meinen Willen eingesperrt. Nein, ich habe es hier nicht gut getroffen, ich will hier raus!“ Die ganze Aktion war wohl nicht so sinnvoll, hatte zum Glück aber auch keine Konsequenzen.
Wir mussten auf der Werft arbeiten. Meine Kollegen (keine Bausoldaten) redeten kein Wort mit mir. Auch die Frühstückspause verlief wortlos, es kreiste eine Flasche Schnaps. Auf dem Schiff war ich Schwitzwasserisolierer, mit viel Glaswolle, ohne jeden Schutz. Am Abend juckte der ganze Körper von den feinen Fasern. Am ersten Tag fand ich nach der Mittagspause meinen Arbeitsplatz nicht mehr, nur die Baracke des Vorarbeiters. Er war sehr nett, hatte wohl auch einen Sohn in meinem Alter, kochte mir erst einmal einen Kaffee und meinte, dass wir das alles ganz ruhig angehen.
Immer wieder gab es Gerüchte, dass evtl. ein paar Spatis in das Gesundheitswesen, vielleicht sogar in die Nähe ihrer Heimatorte verlegt werden, es gab Hoffnung. Die Bausoldaten hatten sich das Recht erstritten, mitzuentscheiden, wer verlegt wird. Es bildete sich eine Art Rat. Es wurde beschlossen, zunächst die Leute nach Hause (?) zu schicken, die kleine Kinder daheim haben, dann die Verheirateten und dann den Rest. Wenn ich mich recht entsinne, verzichteten die Bausoldaten, die die Verhandlungen führten darauf, selbst auf der Liste zu stehen. Ich fand dies bewundernswert.
Am nächsten Tag, dem 28.11. mussten wir zur ärztlichen Untersuchung zur Werksärztin. Wenn ich mich recht  entsinne, hatte  sie  Mitleid  und  erteilte   recht ausgiebig  Atteste  gegen   gesundheits-
schädigende Arbeiten.
Dann kam der Paukenschlag: ein Appell wurde auf dem Werksgelände einberufen. Es wurde bekannt, dass 50% aller Bausoldaten ab sofort im Gesundheitswesen eingesetzt werden würden und aufgrund des Schichtdienstes und der damit verbundenen logistischen Probleme nicht mehr in den Kasernen untergebracht werden können – Freiheit! Die anderen Bausoldaten sollten bis zum Ende ihrer Zeit in Prora, Stralsund und Greifswald (?) verbleiben.
Doch es gab ein Problem, wie komme ich auf die Liste?
Die Namen wurden vorgelesen, mit jedem Namen sank die Wahrscheinlichkeit, selbst draufzustehen. Als einer der letzten (ich glaube als letzter) stand A auf der Liste. Warum er und ich nicht? – Ich war fassungslos, ich wollte es nicht glauben. Jubel auf der einen Seite, Bestürzung auf der anderen. Wie sollte ich die Tage hier überstehen.
Dann kam der Abend, ein mir unbekannter Kollege vom Bausoldatenrat kam und fragte mich augenzwinkernd. „Leipzig liegt doch in der Nähe von Magdeburg – oder? Da fehlt noch ein Beikoch in einem Leipziger Pflegeheim.“ Geschafft! Es war ein unbeschreibliches Glücksgefühl.
Einige Stunden später, es war gegen 21 Uhr, hieß es: der Befehl wurde geändert, alle Bausoldaten kommen ins Gesundheitswesen. Vorher sollten wir noch einmal nach Prora, um einen Großteil unserer Sachen abzugeben.
Wir fuhren alle nach Prora, das nun von Bausoldaten überfüllt war. Überall gab es Auflösungserscheinungen, die Offiziere waren kurz davor durchzudrehen. Dann kam eine Delegation aus Strausberg, alles hohe Tiere, und verabschiedeten die (ersten?) Bausoldaten in Richtung Krankenhäuser. Niemand hörte mehr zu, es gab kein Marschieren mehr, keine militärischen Grüße, nichts.
Im Chaos traf ich noch einmal Genossen N*******, der mich so gepiesakt hatte und beschwerte mich, dass ich immer noch kein Bett habe, obwohl mir das gesetzlich zusteht. Diese Provokation war natürlich völlig überflüssig, und im Nachhinein wundere ich mich über meine Aggressivität.
Am Abend gab es eine unglaubliche Ausgelassenheit, unsere „E-Bewegung“. Wir lagen uns in den Armen, unsere 542 Tage waren schon nach 30 Tagen zu Ende. Es waren die längsten 30 Tage meines Lebens.
Die Armee hatte dann noch ein Abschiedsgeschenk: Die Lkw (es mögen so 30 oder 40 gewesen sein, starteten um 4 Uhr, um 5 Uhr und um 6. Wir gehörten zur zweiten Gruppe und fuhren per Lkw (hinten mit Plane) über Rostock – Berlin nach Leipzig. Es war ein bitterkalter Tag, Minusgrade. Die Kleiderordnung wurde freigestellt, was aber bei diesen Temperaturen nur 30 Minuten hilft. Der heiße Tee in einem Kübel ist auch nach zwei Stunden kalt. Nach 30 Minuten friert man, nach 60 Minuten fangen die Glieder an zu schmerzen und spätestens nach drei Stunden döst man nur noch apathisch vor sich hin. Einer der Bausoldaten drohte immer einzuschlafen, wurde immer wieder wachgerüttelt, ein weiterer übergab sich ständig. Die Alarmglocke, die auf dem Lkw angebracht war, um den Fahrer bei Gefahr zu warnen, funktionierte nicht. Wir fuhren stundenlang. Wer austreten musst tat dies vom Lkw direkt auf die Autobahn, was bei den übrigen Verkehrsteilnehmern natürlich entsprechende Verwunderung hervorrief. Irgendwo in der Nähe von Berlin wurde eine Pause gemacht, in der wir uns in einem kleinen Laden mit ein paar Lebensmitteln und mit Alkohol (!) versorgen konnten. Unser Kompaniechef, der vorn im beheizten Lkw mitfuhr, gab einen diesbezüglichen Sonderbefehl.
Nachdem wir in Leipzig wohl alle möglichen Pflegeheime abgeklappert hatten und uns jedes Mal ein paar Genossen verlassen hatten, kamen wir gegen 18.30 Uhr im Pflegeheim Waldstraße an. Dort durften die verbliebenen ca. 20 Bausoldaten die Lkws verlassen. Diesen Moment werde ich nie vergessen, und Leipzig werde ich immer mögen.
Junge Schwestern halfen uns mit unseren Armeesäcken vom Lkw und bemerkten, dass wir recht spät kommen würden und sie eigentlich schon mit dem Kaffee auf uns gewartet hätten. Endlich wieder Menschen, kein Rumgeschreie mehr – endlich frei.

Waldstraße

Die Lkw fuhren weg, und ich sollte nur noch einmal einem Offizier, bei meiner Entlassung, begegnen. Unser erster Arbeitstag im Pflegeheim begann mit einem späten Frühstück und einem Rundgang durch das Heim, der Eindruck war verheerend, die Bedingungen waren menschenverachtend (z. B. 6-Mann- Zimmer). Unsinnigerweise mussten wir unter unseren weißen Kitteln die Uniform tragen, was bei älteren Heimbewohnern zu spontanen Glücksbekundungen wie „Die jungen Ärzte von der Wehrmach sind endlich da!“ führte. Dem unsäglichen Treiben wurde von der Heimleitung am nächsten Tag ein Ende gesetzt.
Da ich im Gegensatz zu den anderen Spatis schon vier Wochen (statt 2) nicht daheim war, bekniete ich die Verantwortliche, mir am Samstag einen Tag freizugeben. Es kostete viel Überredungskraft, aber es gelang mir schließlich. Voller Freude fuhr ich gen Heimat. Das Entsetzen war groß, als meine Freundin mir eröffnete, dass sie mich nicht mehr will. Ich hätte mich vollkommen verändert. Es waren gerade vier Wochen vergangen, ich verstand die Welt nicht mehr.
Ich fuhr in der Nacht zum Sonntag zurück nach Leipzig und begann früh um 6 meinen Dienst. Es gab eine 6-Tage-Woche mit ständig wechselnden Schichten. Auf meiner Station gab es noch drei Schwestern, alle anderen waren schon in den Westen abgerückt. Bei mehr als 30 Bewohnern, von denen gut die Hälfte bettlägerig war, gewindelt werden musste etc. hätte man ca. 10 Personen gebraucht, um die drei Schichten so einigermaßen besetzten zu können. Das führte dann dazu, dass ich häufig Nachtdienst hatte und neben meiner Station noch drei andere Stationen betreuen musste. Wegen des Personalmangels mussten die Leute auch nachts gewaschen und gewindelt werden, sonst wären die Leute nie „drangekommen“. Für mehr als 100 Leute verantwortlich zu sein, ist natürlich eine absolute Überforderung. Wenn mal etwas passierte, musste ich, da nachts kein Arzt in dem über 500 Personen fassenden Haus war, den Krankenwagen per Telefon rufen. Dazu gab es unglaublich viel Ungeziefer, Kakerlaken, Mäuse sogar in den Betten der Bewohner. Heute klingt das wie aus einem Horrorfilm, aber das war die DDR, die heute sooft gepriesene „soziale Seite“ dieses Staats.
Trotz allem. Es war eine wichtige Zeit für mich. Sie war unglaublich anstrengend, physisch und psychisch, ich habe unendlich viel Leid gesehen, aber auch (ein wenig) Hoffnung. Zwei Monate vorher hätte ich gesagt, so etwas nie machen zu können, aber nach Prora war alles anders. Ich war in der Zeit zufrieden, zufrieden mit dem was ich tun durfte und konnte, nicht mit den Zuständen.
Ich  genoss  die Freiheit,  die Abende,  die wenigen  freien Tage, l ernte  viele interessante Menschen
kennen, es war eine gute Zeit. Ich fing an, mich in Leipzig wohlzufühlen.
Das war wohl auch ein Grund, weshalb ich bis zum Schluss Bausoldat blieb und nicht in den dann später eingerichteten Zivildienst wechselten. Einige ehemalige Bausoldaten schrieben mir, dass sie jetzt Postkarten auf Kirchtürmen verkaufen. Das wollte ich aber nicht, da hätte ja wieder einer in Leipzig gefehlt.

Danach

...habe ich in Weimar Stadtplanung studiert und bin jetzt Verkehrsplaner und schaue von meinem Büro direkt auf das Goethehaus.
Zu A habe ich immer noch Kontakt und natürlich auch zu B.

Weimar, den 18. August 2007

zurueck29

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