Drei Miniaturen

Andreas Sehn (ehemaliger Bausoldat) (E-Mailadresse Nr.: 03)

Andreas Sehn: „Drei Miniaturen zu einem Foto“ - Mukran im Januar 2008

Drei Miniaturen

Anne
Friedlich-blau liegt die Ostsee vor Anne. Durch einen Drahtzaun sieht sie aufs Wasser. Sie liebt diese Oktobertage mit ihrem goldenen Licht. Obwohl die Sonne noch letzte wärmende Strahlen schickt, friert Anne. Jedes Jahr steht sie wieder hier, jedes Jahr quält sie wieder die Erinnerung an ihre Jugendliebe Christoph. Matthias, ihr Mann, steht ein paar Schritte hinter ihr, weiß, wie sie immer wieder trauern muss, will helfen, will sie in den Arm nehmen, will ihr sagen, dass doch alles schon 25 Jahre zurück liegt, dass selbst Annes Sohn Martin nichts mehr von dieser Zeit wissen will, dass er „fertig getrauert“ hat um eine Person, die er nie kennen lernte. Matthias schweigt, findet – wie jedes Jahr – keine Worte, trauert mit um einen für ihn Unbekannten, der seiner Anne einmal viel bedeutet hat.
Anne hat nie viel über Christoph erzählt. Matthias musste sich ein Puzzle aus Erinnerungen, Andeutungen und Vermutungen zusammensetzen. Dies hat Jahre gedauert. Gerade an diesen Oktobertagen hat er sich oft gefragt, ob er nur ein später Ersatz für Annes große Liebe ist. Aber er und Anne lieben sich doch wirklich! Nur, Christophs Schatten verschwindet wohl nie aus Annes Leben. Irgendwie ist er immer gegenwärtig. Sogar als Mirjam, ihre Tochter geboren wurde, blieb das so. Wie hatte der damals halbwüchsige Martin auf die Geburt seiner Halbschwester reagiert? „Ihr seid ja jetzt eine richtige Familie!“, hatte er wütend geschrieen. Kann man wirklich um jemanden so trauern, den man gar nicht kennt?
Anne steht wie versteinert und starrt auf die Granitblöcke im Wasser. Welcher von den Hunderten hatte sich gelöst? Welcher hatte ihr Leben so verändert, von einem Tag auf den anderen alle Pläne zerstört?
Anne ist Matthias dankbar für sein Verständnis und seine Geduld.
Mirjam scheint von den traurigen Gedanken der beiden nichts mitzubekommen. Stolz kommt sie mit einem Strauß selbst gepflückter Gräser und Blumen zu ihren Eltern zurück. „Die sind für Martins Papa!“, sagt sie, beinahe fröhlich. Anne steckt den Strauß in den Zaun, dreht sich zu Matthias um und lässt sich von ihm fest umarmen.
Beide wissen, dass sie im nächsten Oktober wieder an dieser Stelle stehen werden. Die Ostsee wird wieder friedlich vor ihnen liegen, die Sonne wird wieder letzte wärmende Strahlen schicken, die Granitblöcke werden wieder vom Wasser umspült sein- und schweigen.

Kai
„Warum willst du denn jetzt schon wieder anhalten? Fähren haben wir doch so viele gesehen?!“ Kathrin ist genervt. Zweiundzwanzig Jahre wollte Kai nichts von der Insel Rügen wissen. Immer wieder hatte sie versucht, ihn zu einer Reise zu überreden. Schließlich waren sie beide ja früher schon auf Rügen gewesen! Kathrin kannte das Ferienlager des Betriebes ihres Vaters in der Nähe von Groß Zicker. So manche Sommerferienwochen hatte sie dort verbracht. Später, als Jugendliche, war sie sogar Gruppenleiterin in diesem Lager gewesen. Kai hatte am Mukraner Hafen mitgebaut. Sie glaubte, ihren Mann gut zu kennen, aber was wusste sie eigentlich über diese 18 Monate seines Lebens? Eigentlich nichts. Kai sprach nie über diese Zeit, so sehr sie auch nachfragte. Er schien seinen Rügenaufenthalt komplett aus dem Gedächtnis getilgt zu haben, wenigstens glaubte sie das bis zu diesem Frühjahr. Überhaupt schien Kai sich in den zurückliegenden Monaten sehr verändert zu haben: Er hatte alte Fotos sortiert, viel telefoniert, hatte versucht, Adressen von ehemaligen Kameraden herauszufinden. Er hatte sich Bücher über die NVA gekauft--- nur gesprochen hat er mit ihr nicht über seine Gedanken.
Auf dem Parkplatz kommt das Auto schließlich zum Stehen. Zögernd steigt Kathrin dann doch mit aus, folgt Kai mit einigem Abstand auf seinem Weg zum Wasser. Gedankenverloren pflückt Kai Blumen und Gräser, Kathrin lästert wie immer „über diese neuen Moden“. Aber er scheint sie gar nicht zu hören mit ihrem Gezeter über Kälte, Reisepläne und Zeitver-schwendung. „Hier habe ich oft gelegen, gelesen, geträumt, gehofft, dass alles bald vorbei ist“, sagt Kai, wohl mehr zu sich selbst, als zu Kathrin. Die Granitböcke liegen noch genau so da, wie er sie damals mit abgelegt hat. Seitdem war er immer wieder hochgeschreckt, wenn er irgendwo das Geräusch aufeinander krachender Steine gehört hatte. Gut, dass ihm und seinen Kameraden nichts passiert ist, damals. Kathrin drängelt: „Nun komm endlich, ich habe Hunger!“ Kai schießen viele Erinnerungen durch den Kopf, in Sekundenschnelle kommen Fragen in ihm hoch, die er sich bislang nicht stellen zu glauben durfte.
„Also ich gehe jetzt zurück!“, hört er wie aus weiter Entfernung Kathrin sagen. Und Kai nimmt seinen Strauß, schiebt ihn zwischen den Draht des Zaunes, flüstert dabei- fast unhörbar- „Ach, Markus!“. Dann geht auch er zum Auto zurück.

Kerstin
Kerstin ist sauer. Warum nur hatte sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen? Seit Jahren lag ihr Mann Uwe ihr in den Ohren, er wolle mit dem Wohnmobil durch Schweden reisen. Immer wieder hatte Kerstin eine Begründung gefunden, warum das nicht geht. Erst waren die Kinder Steve und Jennifer noch zu klein, dann hatten sie den Kredit für den Hausbau noch abzuzahlen, auch die hohen Preise in Schweden waren ein guter Grund, dort nicht hinzufahren. Aber nach 10 Jahren „all inclusive“ auf Mallorca, Teneriffa, in Djerba und sonst wo hatte Uwe sich durchgesetzt. Ohne Kerstin zu fragen, hatte er das Wohnmobil reserviert, die Überfahrt mit der Fähre bestellt, sich um die Reiseroute und um Campingplätze gekümmert und Kerstin einfach überrumpelt: Der Schwedentrip war sein Geschenk zu ihrem 35. Geburtstag. Was hätte sie dagegen tun sollen? Widerwillig kam Kerstin mit. Der Urlaub war für Uwe dann doch nicht das große und schöne Erlebnis. Kerstin hatte immer etwas zu nörgeln, die Kinder schimpften, weil es natürlich auf den Campingplätzen kein Animationsprogramm gab und auch die Niederlassungen amerikanischer Fast- Food- Ketten in Schweden sehr weit auseinander lagen. Uwe versuchte, diese Wochen trotzdem zu genießen: Einmal hatte er sich gegen seine Familie durchgesetzt! Sollten sie doch meckern: Er war mit dem Wohnmobil in Schweden! Selbst Kerstin gewöhnte sich an die neue Urlaubsform, denn auch im kleinsten Wohnmobil gibt es immer irgendetwas zu putzen. Bald blitzte die Urlaubsunterkunft genauso wie die Wohnung und obwohl Kerstin stets darüber schimpfte, war sie doch jeden Abend glücklich über ihr Werk. Beinahe hätte Uwe gesagt, dass das Putzen wohl das wäre, was sie in den Urlauben der letzten zehn Jahre vermisst hatte. Aber um des Familienfriedens willen verkniff er sich diese Provokation.
Auch der schönste Urlaub geht irgendwann einmal zu Ende. Die Fähre brachte die Familie nach Mukran zurück. Wasser musste aufgefüllt werden, der „Hülsenkrug“ hielt endlich deutsches Essen bereit. Also: Runter von der Fähre und Rast gemacht. Die Kinder haben ihren Auslauf, Jennifer pflückt Blumen und Gräser, Steve spielte mit dem Ball, Uwe träumt der auslaufenden Fähre nach und Kerstin kehrt das Wohnmobil aus. Nachdem der Hunger groß genug geworden ist, wollen sich alle aufmachen zum „Hülsenkrug“. Jennifer kommt stolz mit ihrem Strauß zum Wohnmobil zurück. Aber Kerstin protestiert: „Dieser Strauß kommt mir nicht in den Wohnwagen! Ich habe gerade saubergemacht!“ Uwe versucht, die Situation zu retten, nimmt die Blumen, steckt sie in die Maschen des Zaunes, wirft noch einen letzten Blick zur sich immer weiter entfernenden Fähre und geht dann mit der Familie in Richtung „Hülsenkrug“.
Kerstin sagt triumphierend: „Nächstes Jahr organisiere ich aber wieder den Urlaub!“

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