Andreas Ilse

Andreas Ilse - ehemaliger Bausoldat (E-Mailadresse Nr. 27)

Ankunft in Prora

Es war Anfang November 1983, eine Zugfahrt von Halle über Berlin, Greifswald, Stralsund, Lietzow nach Prora. Weiter weg von daheim innerhalb der DDR gab es nicht. Ab Stralsund wurde es im Zug leerer und leerer, bald saßen nur noch Männer mit Reisetaschen, Kartons und meist kurzen Haaren im Zug. Ich hatte ganz bewußt weder meinen Bart noch meine Haare, die lockig bis zur Schulter fielen, gekürzt. In Prora wurden wir von Uniformierten in Empfang genommen und eine endlos scheinenden Betonstraße entlang von Stacheldrahtzäunen geführt. Ein Tor öffnete sich und dann kam ein Gebäude, ebenso endlos wie die Betonstraße. Aber es ging nicht in dieses Gebäude, sondern wir wurden in ein Gebäude gegenüber geführt – in die Turnhalle. Hier saßen und standen schon andere Männer, an einem Tisch wurden die Personalien aufgenommen und man wartete, wartete. Als es schon dunkel war, wurden Namen ausgerufen und in kleinen Gruppen ging es in die Kaserne gegenüber. Bis spät in die Nacht mussten wir an diversen Türen und Öffnungen anstehen, um Uniformteile in Empfang zu nehmen. Mir wurde befohlen, umgehend meinen Bart abzurasieren. Zum Glück traf ich im Waschraum jemanden, der wusste, wie man mit Schaum und Nassrasierer umgehen musste. Mit fünf weiteren Männern bewohnte ich eine „Stube“, ich war mit 22 der Jüngste im Zimmer.
Haare ab, Bart ab, Eingesperrt in eine Kaserne, Einkleidung und Uniformierung, die Zivilsachen mussten nach Hause gesandt werden – Pfiff – Heraustreten zum Frühsport – Augen geradeaus – rechts um – ganze Kompanie Marsch…

Der Wahnsinn wird zum Alltag

Der Bruch zwischen selbst bestimmten zivilem Leben und Soldatsein hätte kaum größer sein können. Plötzlich verbrachte ich mit sechs Männern in der Kasernenstube die Nacht, musste als erstes nach dem Aufstehen mein Bett machen, Turnsachen anziehen, im Frühsport in Kompaniestärke durch das Kasernengelände rennen. Der gesamte Tagesablauf wurde mittels Befehl durch Vorgesetzte geregelt, Anzugsordnung, Ausbildung, Mahlzeiten, Nachtruhe, Lichtschluss. Ständig brüllte es durch Flure und übers Kasernengelände. Neben der psychischen Belastung, einen wenn auch unbewaffneten, dennoch Dienst als Soldat fern der Familie und Freunde leisten zu müssen, kam die physische Belastung. In den ersten Wochen wurde die so genannte militärische Körperertüchtigung durchgeführt, Ausdauerläufe, Marschier- und Exerzierübungen, Gewaltmärsche, ständiges Üben von militärischen Meldungen und militärischem Grüßen. Mann war von früh bis abends auf den Beinen, für viele eine völlig ungewohnte Belastung. Wenn Zielvorgaben nicht erreicht wurden, drohten Sanktionen und Strafen, da wurden Übungen bis in die Nacht hinein fortgesetzt. Die Tage und manchmal auch Nächte wirkten wie ein Alptraum.
Militärische Dienstvorschriften wurden uns nahe gebracht und sogenannte APIs abgehalten, Aktuelle Politische Informationen. Oberleutnant Porath, der Kompaniechef der 2. Kompanie, wirkte verträglicher als manch anderer Vorgesetzter. Aber auch mit ihm war nicht zu spaßen, denn das Militär ist ein ernsthaft Ding, Disziplin und Ordnung standen an erster Stelle.
Verbotener Weise gab es Kontakte zu älteren Bausoldaten, die eine Etage über uns wohnten und wußten, wie der Hase läuft. Trostreicher Zuspruch und kleine Tipps halfen im Alltag, konnten aber das Grundproblem nicht lösen – dem unfreiwilligen Aufenthalt bei der Armee. Ausgang und Urlaub sollten wir angeblich nach Dienstvorschrift erhalten, zweimal im Halbjahr heimwärts zu Frau, Kind und Familie. Ausgang sollte es nur als Belobigung geben, drei Bausoldaten von 90 am Sonntag, um einen Gottesdienst besuchen zu können. Schlimmstenfalls dauerte es 30 Wochen, um die Insel im „Standortbereich“ für einen halben Tag kennen lernen zu können. Am ersten Sonntag durften wir aber „dafür“ gemeinsam einen Rundfunkgottesdienst von Radio DDR 1 hören.
Bis dato kannte ich zwar evangelische und katholische Christen, sogar Methodisten hatte ich kennen gelernt. Hier in Prora traf ich unter den Bausoldaten neben einigen „Nichtchristen“ auf eine bunte Schar verschiedenster Christenmenschen, von deren Glaubensgewohnheiten ich zuvor noch nie gehört hatte. Baptisten, Adventisten, Brüdergemeine und Elimgemeinde gab es vielleicht auch in Halle, aber für mich nicht sichtbar. Im Nachbarzimmer „wohnte“ Andreas, ein Prediger der Adventgemeinde. Wie ich von ihm erfuhr, gab es bei ihnen besondere Speisevorschriften und das Sabbatgebot. Nicht der Sonntag, sondern der Sonnabend war der Tag, an dem nicht gearbeitet werden durfte. Schon nach drei Wochen führte dies zum Eklat, denn 5 adventistische Bausoldaten unserer Kompanie verweigerten die Ausbildung mit dem Hinweis, diese am Sonntag nachholen zu wollen. Da kannte weder der Kompaniechef noch der Chef der Baueinheit noch der Kommandeur ein Pardon, der letztgenannte forderte sogar ein Militärstrafverfahren mit Haft in der Disziplinareinheit Schwedt. Am Ende mussten die adventistischen Brüder „nur“ für mehrere Tage in Arrest. Die Glaubens- und Religionsfreiheit endete hier am Kasernentor, denn dahinter zählten nur Befehl und Gehorsam.

Alltag in Prora

Den ersten Urlaub erhielt ich Weihnachten 1983, die Bausoldaten mit Kindern sollten Weinachten und die Kinderlosen Silvester in den Urlaub geschickt werden. Gegen Mitternacht kam ich in Halle an. Meine Frau Marion erkannte mich erst nicht und verwechselte mich mit einem anderen Bausoldaten, der ebenfalls in Halle aus dem Zug stieg. Meine Tochter, knapp ein Jahr, erkannte mich am nächsten Morgen, bartlos und mit kurzem Haar, nicht wieder und fremdelte, das Wort Papa sollte sie erst nach der Bausoldatenzeit lernen. Für diesen Urlaub konnte ich die Kaserne zum ersten Mal verlassen, zuvor hielt ich mich nur im Kasernengelände oder auf der Baustelle auf, die ja ebenfalls in einem Sperrgebiet lag. Der Ostseestrand, vom Kasernenfenster nur zwei Steinwürfe entfernt, durfte nicht betreten werden – da dieser gleichzeitig Landesgrenze zum Feindesland war. Nur zum Frühsport unter Begleitung eines Zugführers rannten wir hin und wieder am Strand entlang. Andere Kompaniebereiche durften ebenfalls nicht betreten werden und schon gar nicht die zu waffentragenden Soldaten. Man durfte in der wenigen Freizeit nur zum Gang in die MHO (Militärische Handelsorganisation – ein kleiner Laden innerhalb des Kasernengeländes im Block V), zum Sport (Turnhalle oder Ascheplatz) oder zum Kino in der „Holzoper“ (eine kinobestuhlte Holzbaracke neben dem Kontrolldurchlass) mit Abmeldung den Kompaniebereich verlassen. Und wie angekündigt durften jeweils drei Bausoldaten sonntags die Kaserne verlassen, bis zum September 84 gehörte ich nicht zu den Privilegierten! Doch das größte Druckmittel war der ersehnte Heimaturlaub. Neben Sonderverrichtungen (Strafarbeit) war dies die geläufigste Bestrafung und nur wenige ließen sich hiervon nicht beeindrucken. Zum Glück traf mich diese Bestrafung nur einmal. Eine vergessene Kaffeetasse auf dem Fensterbrett führte zu einem Rapport beim „Spieß“, eine gravierende Ordnungswidrigkeit, denn wenn man das Zimmer verließ, mussten sich alle privaten Gegenstände im verschließbaren Fach des Spindes befinden. Dreimal musste ich dabei das Zimmer des Vorgesetzten betreten und wieder verlassen, denn meine Meldung war jeweils nicht korrekt. Dann zog er für die restliche Dienstzeit die Tasse mit dem Hinweis, bei meiner Entlassung diese wieder in Empfang nehmen zu können, ein. Aus Ärger verabschiedete ich mich beim Herausgehen mit einem leisen „Arschloch“, doch er hatte bessere Ohren als ich dachte und jetzt bekam ich die „verdiente“ Strafe: Streichung eines fürs Wochenende geplanten Heimaturlaubes. Eine Arrestzelle oder gar das Militärgefängnis Schwedt brauchte ich während der 18 Monate nicht von innen sehen, weil die „offene“ Widerständigkeit von mir vermeiden wurde.   

Bausoldaten in der „Taucherglocke“

Nach der zweiwöchigen Grundausbildung und dem Gelöbnis, dass ich mit einer schriftlichen Erklärung gegenüber dem Kompaniechef, es aus Gewissensgründen nicht mitsprechen zu können, sprachlos über mich ergehen ließ, ging es zum ersten Mal mit dem IFA W50 raus aus der Kaserne nach Mukran bzw. besser gesagt auf ein ungepflügtes Feld weit weg vom Meer. Wir wussten zwar, dass hier ein Hafen gebaut wird, was aber letztendlich an dem jeweiligen Einsatzort entstehen sollte, wurde uns nicht gesagt. Ein Bauwagen stand mit einem Zivilarbeiter bereit, der uns Spaten, Schippe und Kreuzhacke zuwies und zeigte, wo im Novembermatsch gegraben und geschachtet werden sollte. Wir kamen da zum Einsatz, wo Technik nicht bereit stand. Kabel- und Abwassergräben mussten in die abgeernteten Felder geschachtet werden. Die Entwässerung des Baugeländes wurde vorangetrieben, Betonrohre in die Gräben verlegt. Die Abwässer wurden, von Baumaschinen ölgetränkt, Richtung Naturschutzgebiet Wostewitzer Teiche geleitet. Die Ölabscheider wurden erst später gebaut. Der Zugführer, ein Unterleutnant, kontrollierte, ob die Aufgaben kontinuierlich erledigt wurden. Je schlechter aber das Wetter wurde, umso seltener ward dieser gesehen.
Im Januar, Februar 84 kam es zur Verlegung zahlreicher Bausoldaten in andere Kompanien, so kam es, dass ich die verbleibenden 15 Monate in der 1. Baukompanie bei Hauptmann Längert verbringen musste. Seine Schirmmütze in den Nacken geschoben, NVA-Reithosen in den Stiefeln, wirkte er eher wie ein Wehrmachtsoffizier aus einem Kriegsfilm.
Wenige Tage nach der Verlegung wurde ein Teil der Kompanie zu Untersuchungen ins Militärkrankenhaus nach Stralsund gebracht. Herz-Kreislauf-Untersuchungen, man sollte unter Beweis stellen, wie viel Luft man in ein Röhrchen blasen konnte. Eine besondere Tauglichkeit wurde untersucht, zu welchem Zweck wussten wir aber nicht.
Nach zwei Wochen hellte sich die Angelegenheit auf. Alle, die diese Tauglichkeitsuntersuchung bestanden haben, sollten im Zyklus (10 Tage Baustelle, 4 Tage Innendienst) im Chaisson eingesetzt werden. Die Seepfeiler an den zukünftigen Anlegedocks wurden mittels einer besonderen Technologie in den Meersboden versenkt. In einer „Betonglocke“, die mittels Druckluft auf einer im Meer angelegten Sandaufschüttung aufgebaut wurde, sollten diese Bausoldaten in den Meeresboden auf eine Tiefe von 20 Metern „eingraben“. Mangels funktionierender Baggertechnik wurden diese Schachtarbeiten per Hand erledigt werden. Etwa 10 Bausoldaten und zwei Zivilbeschäftigte wurden pro Seepfeiler und Schicht benötigt. 4 Uhr 15 wurden wir geweckt, marschierten zum Frühstück in der Kaserne, um dann gegen 5.30 Uhr auf der Baustelle zu sein. Von 6 bis 18 Uhr hieß es dann unter Druckluft in der „Glocke“ Schicht für Schicht Sand, Ton und Meeresgestein weg zu graben und mittels Laufkatzen und einem elektrischen Aufzug den Meersboden aus dem Inneren dieser „Glocke“ nach oben und draußen zu befördern. Nach 50 Minuten Schachtarbeit wurde eine kurze Pause gemacht, während dieser wurde Druckluft abgeblasen. Der Betonpfeiler (etwa 12 x 8 Meter breit und in der Endphase über 20 Meter tief) senkte sich Zentimeter für Zentimeter, nun wurde nur noch aufgepasst, ob er auch senkrecht in den Meeresboden absank. Dann wurde der Druck wieder erhöht, der Pfeiler kam zum Stehen und es wurde weiter geschachtet. So buddelten wir Stunde für Sunde den Seepfeiler ein halbes Jahr in den Meeresboden. Je tiefer dieser sank, umso höher musste der Luftdruck und dementsprechend länger die Einschleus- und Ausschleuszeiten sein. Da die Zivilbeschäftigten nach Leistung bezahlt wurden, versuchten diese, die Schachtzeiten so weit wie möglich auszudehnen und die Schleusezeiten entgegen den ausgehängten Arbeitsschutzbestimmungen zu verringern. So kam es, dass eines Tages ein Bausoldat aus meinem Zyklus die so genannte Drucklufterkrankung mit höllischen Schmerzen in den Gelenken bekam. Trotz erneuter Schleuseprozedur in der Druckkammer und verlängerter Druckanpassung litt er während der gesamten Armeezeit noch an diesen Schmerzen und konnte im Chaisson nicht mehr eingesetzt werden.
18 Uhr war Arbeitsschluss und danach ging es wieder nach dem Ausschleusen mit dem LKW in die Kaserne. Nach Abendessen, Stubendienst und eine halber Stunde Freizeit war um 21 Uhr Lichtschluss und Nachtruhe. Während wir schliefen, war die Nachtschicht im Einsatz, in der wir dann im Folgezyklus eingesetzt wurden. Diese schwere Arbeit wurde jedoch mit dem besten Lohn „ausgeglichen“, den man in der NVA überhaupt erhalten konnte: einmal im Monat ein Kurzurlaub von Freitag nach dem Dienst bis Montag zum Dienst, so dass ich am Samstag Morgen daheim ankam und erst wieder am Sonntag Abend in die Kaserne reisen musste. Zweiter Vorteil dieser Arbeit war, dass man während der 12-Stunden-Schicht keinen militärischen Vorgesetzten sah, denen war es in der „Glocke“ viel zu gefährlich.
Doch ich hielt diese verlockende Arbeit nicht durch, immer wieder bekam ich Ohrendrücken während der Ein- und Ausschleusung, insbesondere bei leichten Erkältungen, die auf Grund der klimatischen Verhältnisse (kühle feuchte Luft) zumindest meine ständigen Begleiter waren. Nach fünf Monaten bekam ich solche Kopf- und Ohrenschmerzen, dass nur noch der so genannte Medpunkt (Militärarzt) helfen konnte und mich von dieser Arbeit frei stellte.
Danach hieß es wieder Kabelgräben schachten. Auf Grund der schlechten Arbeitsorganisation waren jedoch viele Arbeiten in ihrem Nutzen ad absurdum geführt, so war es nicht nur einmal vorgekommen, dass ein Kabelgraben geschachtet und mit dem Kabel wieder zugeschüttet wurde. Kam die zivile Bauabnahme, wurde festgestellt, dass der Graben 3 Meter hätte versetzt gegraben werden müssen (Bauzeichnungen hatten nur die Vorgesetzten) und nun wurde das Kabel wieder ausgegraben und 3 Meter versetzt eingegraben. Die Motivation, die auch von den jeweiligen Aufgaben abhing, sank ins bodenlose. In Stasiberichten liest man von der organisierten „Arbeite- langsam-Bewegung“ der Bausoldaten. Mitnichten war diese von Bausoldaten organisiert!

In der Glocke Mukran 1984

                                                             In der Glocke - Mukran 1984

  
Musik und Fasten

In der wenigen Freizeit, die man in der Kaserne hatte, wurden Briefe geschrieben, Bücher gelesen, manch einer entdeckte die Malerei, ein Männerchor und ein Posaunenchor wurden gebildet. Unter den Bausoldaten waren aber nicht nur Laienmusiker, sondern auch ausgebildete Kirchenmusiker, die einen hohen Qualitätsanspruch hatten. Es gab Bibel- und Gebetskreise, einen Literaturkreis, viele Bausoldaten bastelten für ihre Kinder Spielzeuge aus Holz. Im Kompanieclub gab es einen Fernseher, natürlich nur mit Empfang des DDR-Fernsehens. Auf dem Zimmer durfte man später auch Radios haben, die jedoch von den Vorgesetzten abgenommen werden mussten. Auf der Frequenzanzeige mussten die DDR-Sender markiert sein, so dass bei einer Zimmerkontrolle feststellbar war, ob man verbotener Weise einen „Feindsender“ hörte.
Die Bausoldaten waren bekannt für gute Kulturarbeit, die eine sozialistische Armee angeblich auszeichnete. Zum Tag der NVA, dem 1. März, durften eine Gruppe von Bausoldaten je Kompanie ein Kulturprogramm auf die Beine stellen, dass vor der Aufführung durch eine Kommission, die u.a. aus den Politoffizieren des Bataillons bestand, abgenommen wurde. Hierzu wurde es den Bausoldaten erlaubt, Musikinstrumente mitzubringen und dieses Programm in einem extra zuvor eingerichteten Musikzimmer einzuüben. Auch ich durfte ein solches Programm mitgestalten. Ein wenig Gitarre konnte ich ja spielen und begleitete ein Cello und ein Keyboard, wir bastelten ein Programm zusammen, das den Willen zum Frieden verdeutlichen sollte. Das Programm begann mit der Biermannschen Melodie von „Soldat, Soldat in Uniform, Soldat, Soldat in grauer Norm … Soldat, Soldat du bist zu viel, Soldat, Soldat das ist kein Spiel“, welches unseren Politoffizieren gänzlich unbekannt war und deswegen ohne Beanstandungen zum Ehrentag der Armee aufgeführt werden durfte. Den Bausoldaten, die dieses Programm dann anschauen mussten, blieb dieses Geheimnis jedoch nicht verschlossen, denn in unseren Kreisen war es ein antimilitaristischer „Schlager“. Beifall und Jubel waren auf unserer Seite.
Da man sich auch nach Absolvierung des „Ehrenprogramms“ heimlich nach Beginn der Nachtruhe in den Musikzimmer traf, wurden diese nach Entdeckung dieser Illegalität geschlossen und die Instrumente mussten im nächsten Urlaub die Heimreise wieder antreten. Aus den Musikräumen wurden wieder Wäschekammern. Vor Ostern traf sich hier nun eine Gruppe, um gemeinsam die Fastenzeit zu „feiern“. Irgendjemand organisierte den Schlüssel und der UvD (die Flurwache, Unteroffizier vom Dienst genannt, bei uns aber von zwei Bausoldaten gestellt) wurde gebeten, anzuklopfen, wenn ein höherer Vorgesetzter den Kompaniebereich betrat. Für mich war es die erste Erfahrung, dass man in der Passionszeit gemeinschaftlich fasten kann, von daheim kannte ich so etwas nicht. Man tauschte sich allabendlich aus, welche Körpererfahrung man mit dem jeweiligen Verzicht erlebte. Ich selbst verzichtete auf Essen und war erstaunt, wie leistungsfähig der Körper auch nur mit Tee sein kann.

Wahlbetrug und Ministerbesuch bei den Bausoldaten 1984

Ende Februar 1984 erfuhren wir Proraer Bausoldaten, dass entgegen früherer Regelungen zur Kommunalwahl diese in der Kaserne stattfinden solle. Insgeheim hatten wir gehofft, in einem gesonderten Urlaub nach Hause fahren zu können, um dort seinem Wahlrecht nachkommen zu können. Da ich zuvor an keiner Wahl teilgenommen hatte, war dies ein Thema, mit dem ich mich nie zuvor beschäftigt hatte. Wahlen, so mein Vorurteil, die mit 99 Prozent der Stimmen für den Wahlvorschlag der Nationalen Front gewonnen wurden, mussten gefälscht sein und sollten der DDR ein demokratisches Aussehen verschaffen. Aber ich wollte mich gerne eines bessern belehren lassen.
In dieser Kommunalwahl sollten Gemeinderats- und Kreistagsmitglieder gewählt werden. Eine kleine Gruppe um Stefan Gehrt traf sich, um zu überlegen, was zu tun ist, um diese Wahl auch Wahl nennen zu können. Da wir Bausoldaten das Kasernenobjekt nicht verlassen konnten, war es uns natürlich auch nicht möglich, die Kandidaten für den Kreistag kennen zu lernen. Einen Gemeinde- oder Stadtrat gab es in Prora nicht, da Prora ein Militärstandort war, also ging es um die Kreistagsmitglieder. Es wurde das Wahlgesetz und die Wahlordnung besorgt und gelesen. Hiernach musste es sogenannte Währforen geben, in denen sich die Kandidaten ihrem Wahlvolk stellen sollten. In Eingaben an den Kreistag und die Bataillonsführung forderten wir, dass uns dieses Recht zugestanden wird, woraufhin ein Kandidat uns vorgestellt wurde. Wie sich aber heraus stellte, trat dieser nicht für unseren Wahlbezirk an, weswegen wir die Vorstellung aller Kandidaten unseres Wahlbezirkes verlangten. Baupioniere und Bausoldaten wurden dann in die „Holzoper“ zum Wählerforum geladen, bei dem sich die Kandidaten der CDU, der LDPD, der SED und anderer gesellschaftlicher Organisationen vorstellten. Wir „bombardierten“ diese Kandidaten mit Fragen zum Hafenbau, zum Umweltschutz, zur Versorgung in der Kaserne und erhielten größten Teils unbefriedigende Antworten.
In den Wahlvorstand unseres Wahllokals wurde sogar ein Bausoldat „berufen“, Bausoldat Buck wusste gar nicht, wie er zu dieser Ehre kam. Ein Teil der Bausoldaten verstand unser Ansinnen überhaupt nicht, sie meinten, dass jede Mitwirkung am „Wahlbetrug“ unredlich sei. Von vorn herein gaben diese an, nicht wählen zu gehen. Ein anderer Teil gab an, ganz bewusst die Wahlkabine benützen zu wollen, da diese zwar in jedem Wahllokal vorhanden war, aber es in der DDR unüblich war, diese zu betreten. Man faltete üblicher Weise vor dem Wahlvorstand den Wahlzettel und steckte ihn in die Wahlurne, schließlich hatte der DDR-Bürger kein „Geheimnis“ vor seinem Wahlvorstand. Wir erkundigten uns im Vorfeld, wann eine Stimme gültig, ungültig, für oder gegen den Wahlvorschlag war, denn eine Auswahl gab es nicht, es handelte sich um eine Blockwahl. Uns wurde gesagt, eine Gegenstimme würde nur dann gezählt, wenn jeder Kandidat einzeln durchgestrichen würde.
Der Wahltag kam und um 18 Uhr fand sich unsere Gruppe mit anderen Bausoldaten bei der Auszählung wieder. Die Ergebnisse klangen glaubwürdig: Von 276 Stimmberechtigten wurden 175 Stimmen abgegeben, somit waren 101 Wähler nicht zur Wahl erschienen. Von 172 Stimmen (3 ungültige) gab es 94 Stimmen gegen den Wahlvorschlag und nur 78 Stimmen für die Kandidaten des Nationalen Front, vermutlich von den zum Wahllokal gehörenden Vorgesetzten stammend. Im Wahllokal der Baueinheit 2 waren die Kandidaten durchgefallen und hatten keine Mehrheit bekommen. Uns war aber klar, dass dies ein Ausnahmeergebnis war, aber von Wahlbetrug keine Spur!
Hiervon konnten wir noch bis zum 8. Mai ausgehen, denn da wurden die Wahlergebnisse auf Kreisebene veröffentlicht. Für den gesamten Kreis Rügen wurden im Neuen Deutschland 268 Nichtwähler gezählt, diese Zahl war nur doppelt so groß wie in unserem Wahllokal, aber es wurden auch nur 40 Gegenstimmen im gesamten Kreisgebiet erwähnt, obwohl allein in unserem Wahllokal 94 Gegenstimmen gezählt wurden. Ein Druckfehler? Wahlmanipulation? Wahlbetrug? Unsere Vorgesetzten, die ja das Ergebnis unsers Wahllokals kannten, wurden immer leiser, es erfolgte keine Aussage zu dieser Veröffentlichung. Nun wurde der Kreis derer, die sich mit der Wahl beschäftigten, größer. Über 20 Eingaben wurden an den Kreistag, den Staatsrat, die oberste Wahlkommission der DDR unter Vorsitz von Egon Krenz und die Volkskammer geschrieben. Es wurden Neuwahlen für den Kreis Rügen von uns gefordert. Zwei Wochen später bekam die Kaserne Besuch, angeblich Mitarbeiter des Rates des Bezirkes, die in Einzelgesprächen gemeinsam mit Vorgesetzten uns erklärten, dass aus militärischen Geheimhaltungsgründen die Ergebnisse aus den NVA-Kasernen auf andere Wahlkreise verteilt würden. Der Feind solle nicht in Erfahrung bringen können, wie viele Soldaten an welchem Ort stationiert wären. Gefragt, wo Regelungen hiefür zu finden seien, antwortete man uns, auch dies stehe unter Geheimhaltungsschutz. Einige Bausoldaten informierten ihre Kirchenleitungen, jedoch ohne eine wesentliche Reaktion. Wolfgang Schnur, Rechtsanwalt in kirchlichem Auftrag aus Binz und damals unbekannter Weise hauptamtlicher IM der Stasi, gab uns den Rat, nicht die Machtfrage stellen zu wollen. So blieb dieser Wahlbetrug der Öffentlichkeit weitestgehend verborgen.
Trotz dieser wahlfeindlichen Umtriebe der Bausoldaten stand uns großer Besuch bevor, Armeegeneral Heinz Hofmann, Minister der Verteidigung, wollte im Sommer 84, so das Gerücht, nicht nur den Fährhafen, sondern auch die Bausoldaten besuchen. Das dies kein Gerücht war, merkte man daran, dass überall in der Kaserne Schönheitsarbeiten geleistet wurden. Wiederum Stefan Gehrt hatte die Idee, einen Brief an den Minister im Vorfeld seines Besuches zu schreiben. Er sprach mich an, ob ich mir einen gemeinsamen Brief vorstellen könne und zeigte mir seinen Entwurf. Mehrere Abende nahmen wir uns Zeit, aus diesem Entwurf einen mehrseitigen Brief zu fertigen. Trotz oder gerade auf Grund unserer Wahlerfahrung sollte dieser Brief mit unseren bescheidenen Möglichkeiten Hofmann dazu anregen, in Zeiten des „kalten Krieges“ (1984 war dieser sehr kalt und drohte noch schneller heiß werden zu können, denn der Einmarsch der sowjetischen Soldaten in Afghanistan hatte zur westlichen Absage der Olympischen Spiele 1980 geführt, woraufhin im Sommer 84 die Olympischen Spiele in Atlanta boykottiert werden sollten, schlimmer war, dass die Stationierung von neuen Atomraketen in West und Ost beschlossene Sache war, wofür gerade die US-amerikanische Politik stand und schlimmstenfalls zu einer neuen Eiszeit im Osten führen konnte – die Politik des neuen Machthabers im Kreml, Tschernenko, war nicht einschätzbar) vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber dem Westen zu eröffnen und den KSZE – Prozeß nicht ermatten zu lassen. In einem zweiten Teil legten wir eher dienstliche Probleme dar, die aus unserer Sicht abgestellt werden sollten. Das Verbot gemeinschaftlichen Betens verstieß unserer Ansicht nach gegen das Recht auf freie Religionsausübung, die Missachtung der religiösen Besonderheit der adventistischen Bausoldaten, am Samstag ihren Sabbat zu feiern, in Folge dessen sie immer wieder kriminalisiert wurden. Wir hatten gehört, dass allen Soldaten seit Anfang 1984 ein wöchentlicher Ausgang zustehen solle und forderten dies auch für uns ein. Wir beschwerten uns über schlechte Verpflegung und wollten mit der Frage nach der militärischen Nutzung des Mukraner Fährhafens signalisieren, dass ein militärischer Einsatz für  Bausoldaten ein Gewissensproblem darstellt. Das Thema eines zivilen Wehrersatzdienstes wollten wir hingegen nicht ansprechen, da uns bekannt war, wie ablehnend das ZK der SED diesem Ansinnen gegenüber stand und hierdurch ein konstruktiver Umgang mit dem Brief eher unwahrscheinlich würde.
Der Minister kam wirklich, aber alle Bausoldaten wurden an diesem Tag auf die Baustelle gebracht. 10 Bausoldaten, überwiegend Gruppenführer, sollten in der Kaserne bleiben, um an diesem Gespräch teilzunehmen. Ich selbst war gerade im Freizyklus und wurde einem Baukommando zugeteilt, dem ich sonst nicht angehörte, schließlich sollte die Kaserne leer sein. Am Vormittag kam plötzlich ein Armeejeep angestaubt, der mich suchte, ich solle zum Ministergespräch gemeinsam mit Stefan Gehrt. Schnell musste ich mich umziehen und wurde in den Stab beordert. Dort saßen die 10 anderen Bausoldaten und in vorderster Reihe unsere Bataillonsführung. Als Minister Hofmann eintraf, befahl er allen Offiziere, am Rand Platz zu nehmen und wir wurden unmittelbar in der Nähe des Ministers platziert. Der Minister begrüßte uns, einer der Gruppenführer bedankte sich anbiedernd bei diesem dafür, dass er in der DDR aus religiösen Gründen die Möglichkeit hätte, den Waffendienst zu verweigern. Doch dann kam der Minister sehr schnell auf unsere Eingabe zu sprechen und wollte von uns diese erläutert wissen. Er zeigte zum Teil Verständnis für die Probleme und erwiderte, dass für ihn entscheidend sei, ob jemand für oder gegen die DDR und nicht ob er Christ oder Kommunist sei. Schließlich hätte er in Spanien im Bürgerkrieg auch mit Christen gemeinsam gekämpft. Bausoldaten sollten wie alle anderen Soldaten behandelt werden, für sie gelten die gleichen Rechte, aber auch die gleichen Pflichten mit Ausnahme des Waffendienstes. Das gemeinsame Beten sei in der Kaserne nicht erlaubt, da es eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat gebe. Bezogen auf die adventistischen Bausoldaten gab er an, dass natürlich ein Befehl, am Samstag zu arbeiten, befolgt werden müsse, aber man durchaus Rücksicht auf die individuellen religiösen Belange nehmen könne, solange das Land nicht in Gefahr sei.
Als die anderen Bausoldaten von diesem Gespräch hörten, gab es sehr unterschiedliche Reaktionen. Manche meinten, dass wohl nun der Dienst noch stärker nach „Vorschrift“ absolviert werden müsse, was unsere Situation wohl eher verschlechtere. Es wurde das Gerücht in Umlauf gebracht, dass der monatliche Urlaub für besondere Arbeitsleistungen wegfalle. Auch die Vorgesetzten reagierten eher ablehnend, vermutlich, weil wir uns über die von Ihnen zu verantwortenden Umstände beschwert hatten.
In einem Ministerbefehl, den wir natürlich nicht zu sehen bekamen, wurde festgelegt, dass für uns die gleichen Bestimmungen wie für andere Armeeangehörige gelten sollten. Ab diesem Zeitpunkt konnten wir wöchentlich Ausgang erhalten. Das Essen wurde sichtlich qualitätsvoller und die monatliche Urlaubsregelung wurde auch auf andere als die Chaissonarbeiter ausgedehnt. Wirklich erfreulich war, dass die adventistischen Bausoldaten nicht mehr an ihrem religiösen Feiertag, dem Samstag, zur Arbeit „befohlen wurden“, dafür durften sie am Sonntag Dienst tun.
Am darauf folgenden Tag erschien im Neuen Deutschland und anderen Tageszeitungen ein Bericht über den Besuch des Ministers im Fährhafen. Zum ersten Mal in der Geschichte der DDR wurden hierin die Bausoldaten lobend erwähnt, ohne jedoch die Besonderheit dieser „Waffengattung“ zu erklären.

Das Ende

Die immer häufiger erklärte Gleichstellung der Bausoldaten mit anderen Soldaten wurde unter uns jedoch sehr ambivalent diskutiert, denn gerade die Einbindung in die Armee war das, was wir nicht wollten, das eigentliche Ziel, einen Dienst außerhalb der Armee leisten zu können, ging erst 6 Jahre später mit der Einführung des Zivildienstes im Frühjahr 1990 in Erfüllung, bis zur Aussetzung der Wehrpflicht brauchte es weitere 21 Jahre und kein Mann und keine Frau ist heute mehr verpflichtet, das Kriegs“handwerk“ zu erlernen. Und ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das, was man nicht mehr lernen muss, auch irgendwann nicht mehr getan wird: Der Krieg!

 

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