“Helmut”

Um den grauenvollen Alltag in Prora besser zu überstehen, suchte man immer nach Möglichkeiten, seine eigene kleine Überlebenswelt im Hintergrund einzurichten. Bei mir war es ein kleines Radio (RFT G1000) mit einem Ohrhörer. Für dieses Radio hatte ich mir eine spezielle Tasche genäht, in der ich es die meiste Zeit direkt am Leib trug. (teilweise sogar nachts) Dieses Radio verfügte nur über Mittelwellenempfang, was aber vollkommen ausreichte, da ich sowieso nur Deutschlandfunk, Deutsche Welle und Radio Luxemburg damit hörte. Der Empfang war auf Rügen nicht besonders gut. Trotzdem war es immer wieder eine große Genugtuung für mich, stundenlang Bundestagsdebatten anzuhören, obwohl die Inhalte für uns in der DDR eher uninteressant und manchmal nicht zu verstehen waren. Ich genoss jede Minute davon und träumte mich oft in den Westen hinüber. Am Ende der Armeezeit kannte ich mich richtig gut in der Politik des Westens aus. Die mir bekannten DDR-Politiker konnte ich dagegen an einer Hand abzählen. Diese Tatsache half mir dann auch in der Wendezeit, manches schneller zu verstehen. Helmut

Dieses kleine Radio war mein ständiger und immer gut versteckter Begleiter. Ich nannte es „Helmut“, weil ich eben auch die Stimme von Helmut Kohl öfter damit hörte.

Besonders oft und lange konnte ich das Radio in den Herbst- und Wintermonaten nutzen. Wenn es kalt war, durfte man die so genannte „Oma“ überziehen, ein Stoffschlauch, der sowohl als Schal, als auch als eine Art Mütze zu gebrauchen war. Oma hat natürlich auch den kleinen Ohrhörer immer gut verdeckt.

Ich kann mich beispielsweise noch sehr genau an einen größeren Appell auf dem Schwarzplatz vor der Kaserne erinnern, der im Herbst 1986 vermutlich im Zusammenhang mit dem 7. Oktober stattfand. Wir kamen gerade von der Baustelle und mussten uns gleich in Arbeitskleidung aufstellen. Während ein Offizier vor uns etwas über die „Errungenschaften der DDR“ erzählte, hörte ich über den Ohrhörer dem Bundeskanzler Kohl zu. Ein unglaublich erhebendes Glücksgefühl war das damals für mich. Im Gedanken rief ich diesen Armeeleuten zu: „Eure Zeit wird irgendwann vorbei sein!“ Wenn ich damals gewusst hätte, dass das schon 3 Jahre später Wirklichkeit wird …

Dass ich diesem Helmut Kohl Jahre später leibhaftig in Prora (!) begegnen würde, hätte ich damals in meinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten. Es war 1998 während eines Sommerurlaubs auf Rügen. Wir unternahmen natürlich auch einen Ausflug nach Prora. Als wir dort ankamen, war auf dem Hubschrauberlandeplatz ein reges Treiben zu beobachten. Feuerwehr und Sicherheitsdienste hatten am Rand des Platzes Stellung bezogen. Kurze Zeit später landeten 3 Hubschrauber. Aus einem der Hubschrauber mit der Aufschrift „Bundesgrenzschutz“ stieg der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl und seine Umweltministerin Angela Merkel. Beide kamen wegen einer Wahlkampfveranstaltung nach Binz.
Hubschrauber

Dass ich diesem richtigen „Helmut“ ausgerechnet an dieser Stelle begegnen sollte, ist Kohl für mich immer wieder ein großes Wunder und ein Grund zur Dankbarkeit. Dort wo wir früher stundenlang das Exerzieren üben mussten. Dort wo Bausoldaten jahrelang von den Vorgesetzten schikaniert wurden. Dort wo regelmäßig Honecker & Co landeten, um sich auf die Insel Vilm zurück zu ziehen. Dort in Prora, wo ich so oft heimlich seine Stimme im Radio hörte …

In diesem Augenblick wünschte ich mir alle ehemaligen Armeevorgesetzten herbei. Diesen Anblick hätte ich ihnen so sehr gegönnt.

Tobias Bemmann
(Bausoldat von November 1985 - April 1987)

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