Die kleine Kaserne in Sellin, in der sich heute eine Jugendherberge befindet, gehörte zu den Grenztruppen (Seestreitkräfte). Vermutlich wurden dort überzeugte junge Leute ausgebildet. Sie machten jedenfalls nicht den Eindruck von typischen einfachen Soldaten. Da sie zu den Seestreitkräften gehörten, blickte ich bei den Uniformen und Dienstgraten nicht durch.
Rund um die Uhr wurde mir ein Aufpasser an die Seite gestellt, der jeweils nach einigen Stunden abgelöst wurde. Reden durfte ich mit ihnen nicht, das hatte man mir verboten. Ich hatte nur ihre Befehle auszuführen.
Sofort nach meiner Ankunft bekam ich den ersten Befehl: Sämtliche Pinkelbecken des Hauses mit einer Rasierklinge vom Urinstein befreien. Und Urinstein gab es dort sehr viel. Während der Arbeit dachte ich oft: „Welche Schweine leben hier wohl, dass es hier so aussieht?“ Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich diese ekelhafte Arbeit ausführen musste. Es ging jedenfalls bis weit in die Nacht hinein. (Eine Uhr durfte ich dort nicht haben.) Feierabend war dann aber noch nicht. Bis zum nächsten Morgen musste ich auf dem Kasernenhof mit einem Nagel das Moos zwischen den Pflastersteinen herauskratzen. Sobald ich mit der Arbeit etwas langsamer wurde, drohte der Aufpasser mit „Nachschlag“.
Das hatte man mir gleich am Anfang gesagt, dass ich ganz schnell „Nachschlag“ bekommen könnte. Mit Nachschlag war die Verlängerung der Arrestzeit auf 10 Tage gemeint. Eine wirklich schlimme Vorstellung für mich, denn die Arrestzeit musste am Ende der Armeezeit „nachgedient“ werden. Das war das Schlimmste an dieser Strafe.
Nach der ersten durchgearbeiteten Nacht brachte man mich in den Keller in eine Gefängniszelle. Dort befanden sich nur eine Holzpritsche und eine schmutzige, graue Armeedecke. Da ich extrem müde war, störte mich das alles nicht mehr. Schon nach 5 Stunden riss man mich wieder mit lautem Gebrüll aus dem Schlaf. Mehr Schlaf würde mir im Arrest nicht zustehen.
Dreimal am Tag hatte ich eine kurze Essenpause. Das Essen war zwar nicht schlecht, man ließ mir aber nicht viel Zeit dafür. Ich war gezwungen, das Essen so schnell wie möglich herunter zu schlingen, da ich wusste, dass es zwischendurch nichts gab.
Wieder lag ein langer Arbeitstag bis zum nächsten Morgen vor mir. Ich musste im Außengelände Steinhaufen umräumen, die Toiletten und Waschräume reinigen und den Sicherheitsstreifen am Rand des Geländes vom Unkraut befreien. Dieser Streifen zwischen zwei Stacheldrahtzäunen führte auch an der Straße vorbei. Einmal fragten mich vorbeigehende Urlauber nach dem Weg zum Strand. Sie wunderten sich sehr, als ich ihnen sagte, dass ich das nicht weiß. Dann mischte sich aber schon mein Aufpasser ein.
Einer der Aufpasser (am Knick in den Schulterstücken war deutlich zu erkennen, dass er wohl ein „E“ war), fragte mich einmal, wegen was ich bestraft wurde. Ich sagte ihm, dass ich den Ausgangsbereich überschritten hätte. Darauf antwortete er: „Nein, du wirst für deine Blödheit bestraft, dass sie dich dabei erwischt haben.“ Wie recht er doch hatte … Bei meinen späteren Ausgangsbereichsüberschreitungen wusste ich, wie ich mich zu verhalten hatte.
Am 3. Arresttag musste ich besonders viel aufräumen und sauber machen. Man erwartete am nächsten Tag einen hohen Offizier aus Berlin. Die Anspannung war deutlich zu spüren. Ich hatte den Eindruck, als wenn sie ihren ganzen Frust an mir ausließen. Ich fing innerlich und leise an zu fluchen, obwohl ich das als Christ sonst nicht tat. Ich war an meiner physischen und psychischen Grenze angelangt. In der Zeit, in der der Besuch aus Berlin kam, wurde ich dann im Keller eingesperrt.
Erst am 4. Tag nachmittags tauchte der Spieß mit einem W50 auf, um mich nach Prora zurück zu holen. Auch ihn verfluchte ich nun innerlich, weil er mich hämisch fragte, wie es mir in Sellin gefallen hätte.
Diese Erlebnisse veränderten meine Sicht auf die Kaserne in Prora. Der „Kollos“ wirkte auf einmal wie ein Zuhause für mich. Ich lernte, die kleinen Nischen und „Freiheiten“ in Prora zu schätzen und auszukosten.
Tobias Bemmann (Bausoldat von November 1985 - April 1987)
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