3 Tage Sellin

3 Tage Sellin

Das „Ausgangsgebiet“ (Bergen, Binz, Lietzow) durfte nicht verlassen werden. Das wussten alle Proraer Bausoldaten. Getan haben es aber trotzdem viele.

An einem Sonnabend im Mai 1986 waren mehrere Bausoldaten zu einer größeren Gemeindeveranstaltung (Adventisten) nach Stralsund eingeladen. Alles war gut geplant. Wir wurden kurz hinter Prora von privaten Autos abgeholt. In Stralsund wollten wir uns überwiegend im Bereich des Gemeindehauses aufhalten. Deshalb entschlossen wir uns, die Uniformen an zu lassen. Zum Mittagessen wurden wir dann in verschiedene Familien eingeladen, zu denen auch mit Autos gefahren wurde. Ich selbst und ein weiterer Bausoldat, der im Mai gerade erst nach Prora eingezogen wurde, sollten bei einer Familie zu Gast sein, die nur ein kleines Stück vom Gemeindehaus weg wohnte. „Die paar Meter können wir laufen“ dachte ich. Wir kamen nicht weit, da tauchte plötzlich eines der gefürchteten Autos der Militärpolizei auf. Reflexartig ergriffen wir die Flucht. Wir rannten in eine schmale Seitengasse hinein, ohne zu wissen, dass sie in einem Hinterhof endet. Die Falle war zugeschnappt. Kurze Zeit später standen die Militärs mit den weißen Gürteln und der roten Armbinde vor
uns. Einer hielt mir eine Maschinenpistole entgegen. In diesem Moment dachte ich, dass ich keinen Boden mehr unter den Füßen hätte. Ein Alptraum? Leider nicht. Ich musste mich im Gepäckraum des Jeeps hinhocken. Die Fahrt dauerte nicht lange. Vermutlich wurden wir ins Wehrkreiskommando von Stralsund gebracht, wo wir im Keller in eine Gefängniszelle kamen. Vorher verhörte man uns kurz und nahm alle persönlichen Dinge weg. Sogar die Schnürsenkel mussten wir abgeben. Dann saßen wir in der Zelle. Leise berieten wir uns, was wir bei den kommenden Verhören sagen wollten und was nicht. Nach einer lang erscheinenden Zeit (die Uhren hatten sie uns ja abgenommen), kam dann unser „Spieß“ aus Prora mit einem LKW W50, um uns abzuholen. Während der Fahrt schwiegen alle. Als wir in der Kaserne ankamen, bekam ich sofort den Befehl, Arbeitskleidung anzuziehen. Ich musste Toiletten und Waschräume ausgiebig reinigen und einen Flur bohnern.

Am Montag musste ich dann beim Kompaniechef erscheinen. Nach einem weiteren hektischen Verhör wurde ich dann so richtig „zusammengeschissen“. Man wollte sich für mich eine geeignete Strafe ausdenken. Da sei durchaus „Schwedt“ drin, sagte er. (Militärgefängnis) Einige Zeit später wurde ich wieder zum Spieß gerufen. Er sagte mir: „Genosse Bausoldat, kommen sie mit, jetzt wird es ernst …“ Er begleitete mich im Treppenhaus 3 Etagen nach unten. Dort befand sich eine unauffällige Tür, an der ich schon so oft vorbei gelaufen war. Nie hatte ich mir bis dahin Gedanken gemacht, was wohl dahinter sein könnte. Vor dieser Tür warteten wir nun. Beim Spieß bemerkte ich eine gewisse Angespanntheit und Nervosität. Nach einiger Zeit wurde die Tür von innen aufgeschlossen. Der Spieß machte bei dem dort erscheinenden Offizier irgendeine Meldung und verschwand wieder. Ich wurde in einen Raum geführt, in dem einige unbekannte Offiziere saßen. Ich musste mich mit an ihren Tisch setzen. An einem weiteren Tisch saß jemand, der auf einer Schreibmaschine alles mitschrieb. Die Atmosphäre in dem Raum war zunächst ganz anders, als ich es erwartet hatte. Kein lautes Schreien, kein Schimpfen … Ein fast verständnisvoll wirkender Mann stellte mir nun Fragen. Schnell wurde mir klar, mit wem ich es hier zu tun hatte und was die besonders interessierte. Das Übertreten des Ausgangsbereiches schien für diese Stasileute eher eine Nebensache zu sein. Sie interessierten sich nur für den Gottesdienstbesuch in Stralsund. Sie warfen mir vor, dass ich mich dort mit Personen aus der BRD getroffen hätte. Ich log nun wie ein Weltmeister, tat so, als wäre ich eher zufällig in den Gottesdienst gekommen und hätte mich ausschließlich dafür interessiert. So hatte ich es auch mit dem anderen Spati ausgemacht, der mit mir geschnappt wurde. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich aber nicht, ob der wirklich dicht gehalten hatte. Ich hatte das Gefühl, als wenn sie etwas wussten, konnte aber nicht einordnen wie viel. In der Gemeindeveranstaltung waren wir ja wirklich mit Besuchern aus dem Westen zusammen getroffen und die Bausoldaten kamen natürlich auch mit denen in Kontakt. Immer wieder fragten sie nach. Mal freundlich, mal energischer … Ich blieb fest bei meiner Lügengeschichte.
Am nächsten Tag dann der gefürchtete Appell, bei dem das Strafmaß verkündet werden sollte.
„3 Tage Arrest in Sellin.“ So lautete das Urteil. Ich war natürlich zunächst erleichtert, hatte ich doch mit Schlimmeren gerechnet. Der andere Spati, der zu einer anderen Kompanie gehörte, bekam eine noch harmlosere Strafe. (ich glaube es war eine Ausgangssperre)

Bis heute bewegen mich viele Fragen dazu. Was wusste die Stasi wirklich? Scheinbar nicht genug, um uns nach Schwedt zu bringen? Von uns beiden Spatis bekamen sie dieselbe Lügengeschichte vorgesetzt. Warum ließen sie uns in Stralsund so viel Zeit, um uns diese Geschichte auszudenken? Warum waren wir dort in einer Zelle untergebraucht? Hat da vielleicht beim Abhören etwas nicht funktioniert? Es deutete alles darauf hin, dass es in dem Gemeindehaus einen Informanten gab. Dieser Informant muss aber sehr lückenhaft und unvollständig berichtet haben. Wurde dort vielleicht jemand erpresst? Jedenfalls scheint dieser Informant nur Daten weiter gegeben zu haben, die keinen Schaden anrichten konnten. Immerhin waren ja auch noch die anderen Bausoldaten in dem Gottesdienst. (insgesamt waren bestimmt 10 Spatis dort) Deren Aufenthalt in Stralsund und deren Kontakte zu den Westleuten muss der Stasi völlig verborgen geblieben sein.

Ich war deshalb nach der Wende sehr gespannt auf meine Stasiakte. Aber in der Akte tauchte die Zeit in Prora nur als ein weiterführendes Aktenzeichen auf. Keine Inhalte über diese Zeit! Wo sind diese Akten geblieben? Im Stasiarchiv bekam ich den Tipp, in diversen Militärarchiven nachzufragen. Aber überall die gleiche Auskunft: „Über Ihre Person sind in unserem Archiv keine Unterlagen vorhanden.“

 

Die 3 Tage in Sellin, über die ich mich zunächst etwas „gefreut“ hatte, wurden mir dann aber zur Hölle gemacht. Auf dem Rücksitz eines Militärmotorrades fuhr mich der Spieß nach Sellin. Vor der Abreise musste ich die Schulterstücke mit dem Spaten entfernen. Sollte damit vermieten werden,  dass die Grenzer auf die Spatis aufmerksam wurden? Ich wurde auch nicht als Bausoldat angesprochen, sondern als „Arrestant“.

In der ehemaligen Kaserne der Grenztruppen in Sellin befindet sich heute eine Jugendherberge

Auf diesem Hof musste ich nachts auf Knien mit einem Nagel das Moos zwischen den Pflastersteinen heraus kratzen.

Die kleine Kaserne in Sellin, in der sich heute eine Jugendherberge befindet, gehörte zu den Grenztruppen (Seestreitkräfte). Vermutlich wurden dort überzeugte junge Leute ausgebildet. Sie machten jedenfalls nicht den Eindruck von typischen einfachen Soldaten. Da sie zu den Seestreitkräften gehörten, blickte ich bei den Uniformen und Dienstgraten nicht durch.

Rund um die Uhr wurde mir ein Aufpasser an die Seite gestellt, der jeweils nach einigen Stunden abgelöst wurde. Reden durfte ich mit ihnen nicht, das hatte man mir verboten. Ich hatte nur ihre Befehle auszuführen.

Sofort nach meiner Ankunft bekam ich den ersten Befehl: Sämtliche Pinkelbecken des Hauses mit einer Rasierklinge vom Urinstein befreien. Und Urinstein gab es dort sehr viel. Während der Arbeit dachte ich oft: „Welche Schweine leben hier wohl, dass es hier so aussieht?“ Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich diese ekelhafte Arbeit ausführen musste. Es ging jedenfalls bis weit in die Nacht hinein. (Eine Uhr durfte ich dort nicht haben.) Feierabend war dann aber noch nicht. Bis zum nächsten Morgen musste ich auf dem Kasernenhof mit einem Nagel das Moos zwischen den Pflastersteinen herauskratzen. Sobald ich mit der Arbeit etwas langsamer wurde, drohte der Aufpasser mit „Nachschlag“.

Das hatte man mir gleich am Anfang gesagt, dass ich ganz schnell „Nachschlag“ bekommen könnte. Mit Nachschlag war die Verlängerung der Arrestzeit auf 10 Tage gemeint. Eine wirklich schlimme Vorstellung für mich, denn die Arrestzeit musste am Ende der Armeezeit „nachgedient“ werden. Das war das Schlimmste an dieser Strafe.

Nach der ersten durchgearbeiteten Nacht brachte man mich in den Keller in eine Gefängniszelle. Dort befanden sich nur eine Holzpritsche und eine schmutzige, graue Armeedecke. Da ich extrem müde war, störte mich das alles nicht mehr. Schon nach 5 Stunden riss man mich wieder mit lautem Gebrüll aus dem Schlaf. Mehr Schlaf würde mir im Arrest nicht zustehen.

Dreimal am Tag hatte ich eine kurze Essenpause. Das Essen war zwar nicht schlecht, man ließ mir aber nicht viel Zeit dafür. Ich war gezwungen, das Essen so schnell wie möglich herunter zu schlingen, da ich wusste, dass es zwischendurch nichts gab.

Wieder lag ein langer Arbeitstag bis zum nächsten Morgen vor mir. Ich musste im Außengelände Steinhaufen umräumen, die Toiletten und Waschräume reinigen und den Sicherheitsstreifen am Rand des Geländes vom Unkraut befreien. Dieser Streifen zwischen zwei Stacheldrahtzäunen führte auch an der Straße vorbei. Einmal fragten mich vorbeigehende Urlauber nach dem Weg zum Strand. Sie wunderten sich sehr, als ich ihnen sagte, dass ich das nicht weiß. Dann mischte sich aber schon mein Aufpasser ein.

Einer der Aufpasser (am Knick in den Schulterstücken war deutlich zu erkennen, dass er wohl ein „E“ war), fragte mich einmal, wegen was ich bestraft wurde. Ich sagte ihm, dass ich den Ausgangsbereich überschritten hätte. Darauf antwortete er: „Nein, du wirst für deine Blödheit bestraft, dass sie dich dabei erwischt haben.“ Wie recht er doch hatte …
Bei meinen späteren Ausgangsbereichsüberschreitungen wusste ich, wie ich mich zu verhalten hatte.

Am 3. Arresttag musste ich besonders viel aufräumen und sauber machen. Man erwartete am nächsten Tag einen hohen Offizier aus Berlin. Die Anspannung war deutlich zu spüren. Ich hatte den Eindruck, als wenn sie ihren ganzen Frust an mir ausließen. Ich fing innerlich und leise an zu fluchen, obwohl ich das als Christ sonst nicht tat. Ich war an meiner physischen und psychischen Grenze angelangt.
In der Zeit, in der der Besuch aus Berlin kam, wurde ich dann im Keller eingesperrt.

Erst am 4. Tag nachmittags tauchte der Spieß mit einem W50 auf, um mich nach Prora zurück zu holen. Auch ihn verfluchte ich nun innerlich, weil er mich hämisch fragte, wie es mir in Sellin gefallen hätte.

Diese Erlebnisse veränderten meine Sicht auf die Kaserne in Prora. Der „Kollos“ wirkte auf einmal wie ein Zuhause für mich. Ich lernte, die kleinen Nischen und „Freiheiten“ in Prora zu schätzen und auszukosten.

Tobias Bemmann (Bausoldat von November 1985 - April 1987)

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